Ein Mann seiner Klasse
ARD-Mediathek: Christian hängt an seinem Papa – trotz Mamas blauer Flecke. Bewegende Geschichte zwischen kindlicher Freude und häuslicher Gewalt.
Wenn Stimmungsschwankungen, Wutausbrüche und Gewalt erst zur Normalität geworden sind, ist es unglaublich schwer, sich aus diesen Fängen zu lösen. Weil wir auch die guten Seiten der Partnerperson kennen und schätzen, vielleicht sogar die Abgründe hinter der Gewalt nachvollziehen können. Oder weil wir noch ein Kind sind, uns nicht zur Wehr setzen können und die Liebe zum Papa am Ende stärker ist als die Angst. „Ein Mann seiner Klasse“ hinterlässt unweigerlich tiefe Spuren – in der Geschichte wie nach dem Abspann. Denn auf eindringliche Weise führt uns der Film nach dem gleichnamigen Roman von Christian Baron vor Augen, was ein ebenso charismatischer wie selbstzerstörerischer und gefährlicher Vater mit seiner Familie anrichten kann.
Letztendlich spiegelt sich hier die Kindheit des Autors wieder, der unter einem solchen Mann aufgewachsen ist. Und spannenderweise wird die Geschichte alles andere als verurteilend erzählt. Denn ja, die gezeigte Gewalt mit all ihren Konsequenzen ist schockierend. Aber fast noch schockierender ist die Hilflosigkeit, die wir dahinter erkennen können: Christians Vater Ottes ist einfacher Möbelpacker und schafft es einfach nicht, seinem Selbstanspruch als Ernährer und starkes Familienoberhaupt gerecht zu werden. Getrieben von falschem Stolz reitet er sich und seine Liebsten immer wieder in neue Probleme und ist oft überfordert. Wenn er überfordert ist, fängt er an zu trinken. Und wenn er betrunken ist, wird er unberechenbar. Er schlägt um sich und alles wird nur noch schlimmer.
Aber dann sind da ja noch die guten Seiten – oder zumindest die Begeisterung und der einnehmende Charme, die doch immer wieder in den Bann ziehen. Der Film startet mit einem spontanen Besuch im Freizeitpark. Einfach Frau und Kinder einpacken, Schule getrost mal sausen lassen, wir machen uns jetzt einen wunderschönen Tag! Im Auto alle gemeinsam laut „König von Deutschland“ singen. Später geht's ins Kettenkarussell und zur Krönung widmet Ottes – mit Blumen in der Hand und vor Laufpublikum – seiner Frau ein Lied. Das alles wirkt fast idyllisch – wäre da nicht Christians Mama Mira, die die meiste Zeit über auffällig still ist und leicht versteckt eine Zigarette nach der anderen raucht. Wäre da nicht Ottes ausufernde Pöbelei gegenüber einem anderen Autofahrer, der das Rauchen im Auto mit den Kindern kritisch kommentiert. Am Ende, als Mira aus dem Auto steigt, sagt sie: „Noch einmal und ich bin weg.“
Miras Schwester Juli macht sich Sorgen und drängt ständig darauf, endlich etwas zu unternehmen. Doch Mira ist wieder schwanger und hofft, sie bekommen das schon irgendwie hin. Später sehen wir die großen blauen Flecken an ihrem Rücken. Noch etwas später, wie Ottes verprügelt wird von jemandem, dem er Geld schuldet – und die Frustration darüber dann mit den Fäusten an seiner Familie abreagieren. Das mitanzusehen ist schrecklich und doch so real, hier ist es Alltag. Das Loch, das Ottes in die Wohnunstür schlägt, wird noch eine ganze Weile bleiben.
Dann kommt dieser eine Tag, an dem Mira mal wieder gehen will. Die Sachen sind schon gepackt, Juli wird sie und die Kinder gleich abholen. Doch ein Anruf aus der Arztpraxis lässt unsere Hoffnung platzen: Erst ein Verdacht, dann bekommt sie die Krebsdiagnose. Mira bleibt – und während die Krankheit sie weiter einnimmt, versucht sie irgendwie, das kaputte Zuhause am Laufen zu halten, während Ottes wegen Diebstahls sein Job verliert und alles noch schlimmer wird, als es ohnehin schon ist. Immerhin: Christian bekommt die Chance, aufs Gymnasium zu kommen statt auf die Hauptschule wie sein Vater. Eine kleine Perspektive, für die Mira kämpft und später Juli, als Mira nicht mehr da ist und ein großer Streit entsteht, wo die Kinder nun bleiben und überhaupt, wie es weitergeht.
„Ein Mann seiner Klasse“ schockt und schreckt ab, schafft es aber auch immer wieder einen einzunehmen. Ottes ist eindeutig Täter: Was er seiner Familie antut, ist furchtbar. Aber wir sehen auch seine anderen Seiten: seine kindliche Begeisterung, seinen Charme, seine Energie, wenn gerade alles okay ist. Stellenweise sind wir sogar überrascht, wie cool er auf manche Dinge reagiert, wo wir zunächst Böses ahnen. Wir spüren, warum Mira und Christian nicht loslassen können von diesem Mann, obwohl er sie immer wieder enttäuscht und verletzt. Und wir sehen, dass Ottes letztendlich Kindheitstraumata weitergibt.
Ein Film, der nichts besser macht, nicht viel erklärt, keine Lösungen gibt – aber uns zwingt hinzusehen. Er tut weh, hinterlässt aber auch Eindruck und Gedanken, die eine ganze Weile weiterrattern.
Marius Hanke
Deutschland 2024, Regie: Marc Brummund, Homevideostart: 01.10.2025, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 130 Min., Buch: Marc Brummund, Nicole Armbruster, nach dem Roman von Christian Baron, Musik: Christoph M. Kaiser, Julian Maas, Verleih: SWR, Besetzung: Camille Loup Moltzen (Christian), Leonard Kunz (Ottes), Mercedes Müller (Mira), Svenja Jung (Juli) u. a.
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