Edge of Everything
Auf Sooner: Abbys Welt steht Kopf! Ein fulminant inszenierter Independent-Film über den Übergang zwischen Kindheit und Jugend.
Kurz vor ihrem 15. Geburtstag ist nichts mehr wie es war: Abbys Mutter ist verstorben, zu ihrem Vater hatte sie nur sporadisch Kontakt. Nun muss sie zu ihm und seiner bürgerlich-spießigen Partnerin Leslie ziehen. Der Alltag ist geprägt von Konflikten, gerade zwischen Abby und Leslie. Dann lernt Abby die rebellische Caroline kennen. Sie wendet sich daraufhin immer mehr von ihren drei besten Freundinnen ab, verbringt viel Zeit mit der neuen Bekanntschaft, doch die Beziehung zu Caroline nimmt nach und nach dysfunktionale Züge an. An Abbys Geburtstag kulminieren die Konflikte und die Teenagerin muss – überfordert mit all den emotionalen Herausforderungen – mehrere Entscheidungen treffen.
Identitätsfindung, Freundschaft, Sexualität, Delinquenz, Abgrenzung, Generationenkonflikt – In „Edge of Everything“ geht es um die großen Themen der Adoleszenz und des Heranwachsens. Wie in „The Edge of Seventeen“ (2016, Kelly Fremon Craig), „Lady Bird“ (2017, Greta Gerwig) oder „Kokon“ (2020, Leonie Krippendorff) fokussiert sich Sophia Sabella und Pablo Feldmans Film auf die Darstellung weiblicher Adoleszenz, greift dabei die gängigen Tropen und Motive auf, erschafft aber auch eine individuelle Dynamik und Atmosphäre. Die Regisseur*innen schauen genau hin, setzen gleichzeitig aber auch immer wieder Leerstellen. Erklärt und ausbuchstabiert wird hier nur wenig, vielmehr wird der jugendliche Schwellenzustand und der Eintritt in die Adoleszenz mit all den Widersprüchlichkeiten und Brüchen durch Bilder, Blicke und Andeutungen vermittelt. Das zeigt sich z.B. nachdrücklich in einer Szene gegen Ende des Films: Abby und ihre Freundinnen sitzen – schon betrunken und teilweise auch zum ersten Mal mit Kokain im Blut – im Auto einer etwas älteren Bekannten. Während die Gespräche an der Oberfläche bleiben, springt die Kamera zwischen den Figuren hin und her, fängt Blicke und Bewegungen ein, in denen Ängste, Sorgen, Überforderungen eingeschrieben sind. Eine Szene wie ein Bild im Bild.
Ohnehin unterstreicht die audiovisuelle Inszenierung die innere Wahrnehmung und den Zustand der Jugendlichen: Die Szenen variieren zwischen statischen Aufnahmen der Ruhe und diskontinuierlich-montierten Szenen der Überforderung. Es wird ausschließlich mit On-Musik gearbeitet, etwa wenn Abby mit ihren Kopfhörern Songs hört oder mit ihren Freundinnen in einem Diner sitzt und sie sich über die Musik beschweren.
Abby befindet sich am Beginn der Adoleszenz und die Inszenierung dieser Schwelle changiert zwischen spätkindlichem Spiel und jugendlicher Hybris, was gleichzeitig immer wieder mit Momenten der Unsicherheit einhergeht, etwa wenn Abbys scheinbar selbstbewusstes Blick- und Bewegungsverhalten für wenige Sekunden bricht. Ganz zentral geht es in „Edge of Everything“ um den Übertritt in eine neue Lebensphase und damit einhergehend lösen sich auch die im Film eingeführten Kindheitssymbole auf. Am Ende – so hat man den Eindruck – ist sich Abby dessen bewusst und es kehrt nach einer emotionalen und intensiven Achterbahnfahrt zumindest temporär Ruhe ein. Abby ist nun eine reifere Figur und gleichzeitig stellen sich ihr viel mehr Fragen als zu Beginn des Films. Den Zuschauenden übrigens auch – und das darf hier durchaus als Qualitätsmerkmal verstanden werden.
Frank Münschke
USA 2023, Regie: Pablo Feldman, Sophia Sabella, Homevideostart: 01.10.2025, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 81 Min., Buch: Pablo Feldman, Sophia Sabella, Kamera: Scott Ray, Schnitt: Benjamin Shearn, Produktion: More Avenue, Sultana Films, Besetzung: Sierra McCormick (Abby), Jason Butler Harner (Abbys Vater), Ryan Simpkins (Caroline), Emily Robinson (Sarah), Dominique Gayle (Hannah), Nadezhda Amé (Lena), Sabina Friedman-Seitz (Leslie)
