Kingdom – Die Zeit, die zählt
Im Kino: Eine Kindheit in der korsischen Mafia. Autobiografisch gefärbte Geschichte über eine intensive Tochter-Vater-Beziehung.
Sommer auf Korsika, 1995. Im Fernseher einer Villa am Meer läuft der Bericht eines lokalen Senders über einen Autobombenanschlag auf einen regionalen Politiker. Bärbeißige Männer schauen gebannt zu. Die junge Lesia wirkt zwischen ihnen wie ein Fremdkörper. Eine Jugendliche inmitten einer Mafiagesellschaft. Sie bekocht und bedient die Männer. Sie wird respektiert, denn Lesia ist die Tochter von Pierre-Paul, ihrem Anführer. Ein Mafiaboss im Untergrund, verfolgt und gejagt von rivalisierenden Clans, die durch die Ermordung des mit ihm verbundenen Politikers klar machen: Auch für dich könnte es bald brenzlig werden.
Lesia ahnt, was ihren Vater umtreibt. Wissen tut sie es nicht. Wenn’s gefährlich wird, lässt er sie fortschicken, zu Verwandten, wo sie vermeintlich sicher ist. Im Laufe des Films von Julien Colonna, selbst Sohn eines ermordeten korsischen Mafiabosses, wird sich zeigen, dass das nicht der Fall ist: Lesia gerät mehr und mehr in Gefahr. Doch je weniger ihr Vater sie schützen kann und je mehr er seine baldige Ermordung herannahen sieht, desto größer wird die Annäherung zwischen Tochter und Vater.
„Kingdom – Die Zeit, die zählt“ ist eine ganz ungewöhnliche und enorm intensiv erzählte Coming-of-Age-Geschichte. Regisseur und Autor Colonna kennt das Mafia-Milieu auf seiner Heimatinsel sehr genau. Durch den fiktionalen Trick, die eigene Beziehung zum Mafia-Vater in eine Tochter-Vater-Dynamik umzuwandeln, schafft er zugleich genügend Distanz zu seinen eigenen biographischen Erfahrungen, um sie in veränderter Form für seinen Film nutzbar zu machen. Die enorme Wirkung, die das Langspielfilmdebüt des französischen Regisseurs entfaltet, liegt nicht zuletzt am direkten, unverstellten Spiel der beiden Hauptakteure Ghjuvanna Benedetti und Saveriu Santucci, die beide zum ersten Mal vor der Kamera spielen und Colonnas Film eine große Echtheit verleihen. Selbiges gilt für die zahlreichen Laien-Nebendarsteller*innen, deren Gesichter man ebenfalls nicht so schnell wieder vergessen wird.
So gelingt Colonna eine ungewöhnliche, meisterhaft erzählte Coming-of-Age-Geschichte über eine Jugendliche, die in einer Welt voller Geheimnisse, Furcht und Perspektivlosigkeit nach einem eigenen, auch selbstbestimmten Lebensweg sucht, dem Milieu des Vaters und den blutigen Regeln der Mafiagesellschaft aber nur schwer wird entkommen können.
Werner Barg
Le Royaume - Frankreich 2024, Regie: Julien Colonna, Kinostart: 25.10.2025, FSK: ab 16, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 111 Min., Buch: Julien Colonna und Jeanne Herry, Kamera: Antoine Cormier, Musik: Audrey Ismael, Schnitt: Albertine Lastera, Produktion: Hugo Selignac, Antoine Lafon, Besetzung: Ghjuvanna Benedetti, Saveriu Santucci, Anthony Morganti, Andrea Cossu, Fréderic Poggi, Régis Gomez, Eric Ettori, Thoman Bronzini


