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Festivals | | von Holger Twele

Zwischen Künstlichkeit und Empathie

„Jugendfilme“ bei den Hofer Filmtagen 2020

Die Internationalen Hofer Filmtage sind kein Jugendfilmfestival. Trotzdem finden sich dort mit schöner Regelmäßigkeit starke Filme mit jugendlichen Protagonist*innen und Themen aus der Lebenswelt Jugendlicher. Zugleich wird hier aber auch sichtbar, dass diese nicht immer auch für eine junge Zielgruppe konzipiert wurden. Eine Spurensuche unter den deutschsprachigen Beiträgen des diesjährigen Festivaljahrgangs, zwischen dem Erzählen für Jugendliche und dem Erzählen über Jugendliche.

"Albträumer" (c) Kurhaus Production; Quelle: Internationale Hofer Filmtage

Zahlreiche, vor allem deutsche Filme bei den 54. Internationalen Hofer Filmtagen 2020 präsentierten Teenager*innen und Jugendliche, die gegen die Eltern aufbegehren oder sich in eine innere Traumwelt zurückziehen. Nicht selten nehmen sie bereits in jungen Jahren ihr Leben selbst in die Hand. Ob die Filme mit diesen Themen und der jeweiligen visuellen Umsetzung auch das junge Publikum erreichen, kann nur die Praxis zeigen. Patentrezepte gibt es nicht!

Nur subjektive Wahrheiten in menschlichen Beziehungen

Einige der Filmschaffenden suchen vor allem nach künstlerisch verdichteten Ausdrucksformen und bauen eine kritische Distanz zu den Figuren auf, wie etwa „Thomas, der Hochspringer“ von Leri Matehha über eine zerstörerische Mutter-Sohn-Beziehung im Milieu eines abgeschotteten Sportinternats. Andere setzen unmittelbar auf Empathie und Gefühle. „Albträumer“, das Langfilm-Debüt von Philipp Klinge, der „Szenische Regie“ an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert hat, versucht beides miteinander zu verbinden. Dank einer kreativen Cadrage der Bilder, stilsicherer Lichtsetzung und der Musik der deutschen Death-Metal-Band Disbelief gelingt es ihm, Spannung aufzubauen und Interesse für die jugendlichen Figuren zu wecken. Diese wirken nicht vorhersehbar, reagieren nicht immer rational, tragen auf diese Weise dazu bei, einem dunklen Familiengeheimnis auf die Spur zu kommen. Die 17-jährige Rebekka kann den Selbstmord des älteren Bruders nicht verwinden und stürzt in eine tiefe Phase der Leere und der Orientierungslosigkeit. Für ihre Eltern aus dem beschaulich wirkenden Dorf ist die Sache dagegen abgehakt, zumal sie Vincent allein für den Selbstmord von Dennis verantwortlich machen, der mit ihm eng befreundet war. Als Vincent für einige Tage in das Dorf zurückkehrt, fühlt sich Rebekka magisch von ihm angezogen und erhofft sich, er könne zur Aufklärung des Tatbestands beitragen. Sie verliebt sich sogar in den sozialen Außenseiter, der jede Konvention ablehnt und im Ort als Zerstörer der heiligen unverrückbaren Ordnung wahrgenommen wird. Zugleich verdunkelt sich die filmische Atmosphäre, zumal Rebekka auf Zeichnungen ihres Bruders stößt, in dem er seine Ängste und seine Not zu Papier gebracht hat. Mag die Darstellung der Erwachsenen zu klischeehaft und das Ende doch etwas zu theatralisch ausgefallen sein, stellt der Film gängige Vorstellungen eines „normalen“ Lebens infrage und zeigt auf, dass es in menschlichen Beziehungen nur subjektive Wahrheiten geben kann.

Eine Liebesgeschichte unter erschwerten Bedingungen

Während in „Albträumer“ die Figuren von Anfang an mehr miteinander gemeinsam haben als sie dachten, schlägt dramaturgisch betrachtet „Freak City“ von Andreas Kannengießer nach dem gleichnamigen preisgekrönten Jugendroman von Kathrin Schrocke aus dem Jahr 2010 den umgekehrten Weg ein. Denn der 15-jährige Mika und Lea leben in zwei vollkommen verschiedenen Welten, selbst wenn sie die gleiche Schule besuchen. Lea ist geheimnisvoll und gehörlos. Sie hängt daher am liebsten unter ihresgleichen ab, mit Leuten, die aus eigener Erfahrung wissen, was es bedeutet, nichts zu hören, und die der Gebärdensprache mächtig sind. Dass sich ein hörender Junge ernsthaft für sie interessieren könnte, liegt außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Mika, der zwar noch an seiner Ex-Freundin hängt, scheint es dennoch ernst mit Lea zu sein und er lernt sogar die Gebärdensprache in einem Crashkurs. Auch gegen einen kaum älteren Jungen als Dolmetscher hat er beim ersten steif und formal ablaufenden Date nichts einzuwenden. Der übersetzt den Smalltalk routiniert und kann sich die Bemerkung nicht verkneifen, ob sich beide nicht auch mal „über was Spannendes unterhalten“ könnten. Dialogsätze und Szenen wie diese lockern die Geschichte auf angenehme und unterhaltsame Weise auf, die damit die Gefahr umgeht, zu stark ins Fahrwasser unüberbrückbarer Kommunikationsprobleme oder gar „sozialer Verantwortung“ zu geraten, wie Mikas Mutter die Beziehung ihres Sohnes beurteilt. Mit dem Klassiker „Jenseits der Stille“ (1997) von Caroline Link kann der Film aber nicht mithalten, zumal es hier statt einer Vater-Tochter-Beziehung um eine Liebesgeschichte zwischen Jugendlichen unter erschwerten Bedingungen geht. Und die wirkt umso authentischer, als die gehörlosen Charaktere des Films wirklich von Gehörlosen verkörpert werden und das Filmteam ebenfalls aus Hörenden und Gehörlosen bestand. Im stetigen Bemühen, sich der lautlosen Welt der Gehörlosen zu nähern und eine Brücke zwischen ihnen und den Hörenden zu schlagen, meint es der Film mitunter gar zu gut. Denn neben den beiden Sprachformen ploppen unablässig Textinserts und die Kommunikation per Smartphone ins Bild. Die Aufmerksamkeit ist stark gefordert, was auf Dauer anstrengt und den Handlungsfortgang in die Länge zieht. Wenn im Abspann des Films, an dem Kannengießer übrigens bereits seit 2014 arbeitete, zu lesen ist, dass die faszinierend inszenierte Gebärdensprache in Deutschland erst 2002 anerkannt wurde, sind solche „Mängel“ aber schnell wieder vergessen, zumal die Geschichte in mehrfacher Hinsicht beeindruckende Liebeserklärungen parat hält.

Abschied und Verlust von Heimat

Ungleich ruhiger und noch langsamer, wenn auch nicht weniger intensiv und in atmosphärisch dichten und einfühlsamen Bildern erzählt Sevgi Hirschhäuser ihr Spielfilmdebüt „Toprak – Soil“, das sie ohne Filmförderung und Fernsehbeteiligung in der Türkei gedreht hat. Sie erhielt dafür den Hofer Goldpreis der Friedrich-Baur-Stiftung, verliehen durch die Bayerische Akademie der Schönen Künste in memoriam Heinz Badewitz. Der Waisenjunge Burak wächst fernab der nächsten Stadt bei seinem unverheirateten Onkel Cemil und der Großmutter auf und träumt davon, später einmal zu studieren und das einfache und entbehrungsreiche Landleben hinter sich zu lassen. Als die Großmutter schwer erkrankt und die Behandlung viel Geld verschlingt, werden Cemil und sein Neffe plötzlich vor Entscheidungen gestellt, die es ihnen unmöglich machen, das bisherige Leben weiterzuführen. Ein im wahrsten Sinn des Wortes existenzialistischer Film, der den Sehgewohnheiten des heutigen jungen Publikums komplett zuwiderläuft und dennoch oder vielleicht sogar genau deswegen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Zwei weitere deutschsprachige Filme kreisen um die Schicksale von Emigrant*innenkindern, wobei wie schon in „Toprak“ der Abschied beziehungsweise der Verlust von Heimat eine zentrale Rolle spielt. Es sind keine Kinderfilme im klassischen Sinn, schon gar nicht die deutsch-ukrainische Produktion „Rivale“ von Markus Lenz, der an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin studierte und für seinen zweiten Spielfilm in Hof den Förderpreis Neues Deutsches Kino erhielt. Aber es sind Filme, die auch für ein jugendliches Publikum interessant sein dürften. Die Mutter des neunjährigen Roman aus der Ukraine ist ihrer Jugendzeit zudem selbst kaum entwachsen. Sie ging nach Deutschland, um dort als illegale Pflegekraft für ein älteres Ehepaar Geld zu verdienen. Ihren Sohn gab sie in die Obhut der Großmutter. Als diese stirbt, macht sich Roman „mutterseelenallein“ auf den Weg zu ihr und entdeckt, dass diese mit dem von Udo Samel verkörperten Witwer Gert eine Beziehung eingegangen ist. Der Junge fühlt sich erneut zurückgesetzt und möchte die Mutter ganz alleine für sich haben. Damit beginnt eine zerstörerische Dreiecksbeziehung jenseits der Illusion von einer neuen Kleinfamilie, was für sich allein schon genügend dramatisches Potenzial hätte. Leider übertreibt es Markus Lenz ein wenig, wenn die Mutter plötzlich schwer erkrankt, der Witwer einen Herzinfarkt erleidet und Roman Anzeichen eines Systemsprengers entwickelt, was nicht in der Figur selbst angelegt ist.

Über den eigenen Horizont hinaus

Weitaus stimmiger und obendrein optimistischer in der Zeichnung der Figuren ist „Eine Handvoll Wasser“ von Jakob Zapf – auch dieser ein Debütspielfilm und ohne Unterstützung des Fernsehens produziert. Milena Pribak in der Hauptrolle der zehnjährigen Thurba schafft es gar, gegen ein Urgestein des deutschen Films zu bestehen. Denn Jürgen Prochnow, der seine internationale Karriere in Hof vor mehr als 40 Jahren mit „Die Konsequenz“ startete, spielt hier den 85-jährigen Konrad, einen verknöcherten und verbitterten Alten, der alleine in einem großen Haus in der Nähe von Frankfurt am Main lebt. Er ist mit seiner Tochter zerstritten, zumal diese die Ziehsöhne ihrer lesbischen Freundin adoptieren will. Das Herz des verschrobenen Kauzes taut langsam auf, als er ein fremdes Mädchen in seinem Keller entdeckt, das sich dort vor der Polizei versteckt hält, nachdem die aus dem Jemen geflüchtete Familie abgeschoben werden soll. Zunächst einmal verletzt Konrad das Mädchen mit einer Nagelschusspistole, um sich und dem Publikum wie Clint Eastwood ein ums andere Mal zu beweisen, dass mit alten Einzelgängern nicht zu spaßen ist. Nachdem dies unter Beweis gestellt ist, kann Konrad seine weiche Seite zeigen und er setzt nun alles daran, Thurba zu helfen, deren Schicksal und deren Mut und Eigenständigkeit ihn zu rühren vermögen. In der Entwicklung des Stoffes fühlte sich Jakob Zapf von Kinderfotos inspiriert, die in gegenwärtigen Kriegsgebieten entstanden, aber auch im Zweiten Weltkrieg. Den Blick dieser Kinder vor Augen oszilliert sein Film zwischen Traum und Realität und zeigt anhand der innerlich weit voneinander entfernt lebenden Figuren, dass man sich trotzdem über den eigenen Horizont hinaus kultur- und generationenübergreifend in die Position anderer versetzen kann. Wahrlich nicht schlecht für einen Film, der politisch vielleicht nicht ganz korrekt sein mag, aber auf jeden Fall anrührt und Empathie hervorruft.

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