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Festivals | | von Holger Twele

Wer du bist, wie du liebst

Filme über Kinder- und Jugendliche im Gesamtprogramm der Nordischen Filmtagen 2021

Um Kinder und Jugendliche ging es bei den Nordischen Filmtagen 2021 auch über die Grenzen des ausgewiesenen Kinder- und Jugendprogramms hinaus. Drei Filme stellten dabei die Auseinandersetzung mit der sexuellen Orientierung in den Mittelpunkt. Dabei zeigt sich die Stärke von Langzeitdokumentationen, die eine Entwicklung beobachten und darstellen können. Aber auch Fehlverhalten in der Filmbranche kommt zur Sprache und verweist auf die Verantwortung von Filmemacher*innen im Umgang mit Schauspieler*innen und Mitwirkenden.

"Hello World" (c) Nils Petter Lotherington / Fuglene

Zur Selbstfindung gehört immer auch die Auseinandersetzung mit der sexuellen Identität, gerade im Kinder- und Jugendalter. Geeignete Filme darüber gibt es seit vielen Jahren, etwa „Raus aus Åmål“ (Lukas Moodysson, 1998) oder „Tomboy“ (Céline Sciamma, 2011). Sie laufen vorzugsweise im Panorama der Berlinale oder sind im Verleih von Salzgeber zu finden. Einen kleinen derartigen Schwerpunkt mit diesem in der filmpädagogischen Arbeit derzeit sehr präsenten Thema setzten dieses Jahr auch die 63. Nordischen Filmtage in Lübeck in ihrem Gesamtprogramm über die Sektionsgrenzen hinweg. Zwei Beiträge aus dem Dokumentarfilmwettbewerb, in denen auch Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt standen, und ein Film aus dem Kinder- und Jugendfilmprogramm zeichneten sich vor allem durch ihre ungewöhnliche Herangehensweise an das Thema aus.

Über den wachsenden Mut, zu sich selbst zu stehen

Der norwegische Dokumentarfilm „Hello World“ (Kinder- und Jugendprogramm) von Kenneth Elvebakk porträtiert über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg vier Schüler*innen zwischen 12 und 14 Jahren, die sich offen als queer geoutet haben. Aus ihrer persönlichen Sicht vermittelt der Film, wie sie damit in der Schule zurechtkommen und gibt intime Antworten auf die Frage, ob es inzwischen einfacher geworden ist, sich dafür zu bekennen. Schließlich heben sich Runa, Viktor, Dina und Joachim nicht nur in ihrem Bekenntnis, nicht der heterosexuellen Geschlechternorm zu entsprechen, sondern auch in ihren Outfit deutlich von anderen in ihrer Schule ab, etwa indem sie ihre Haare blau färben oder Kleidungsstücke des anderen Geschlechts bevorzugen. Hatten die vier Protagonist*innen zu Beginn der Dreharbeiten noch größere Probleme, zu ihrem „Anderssein“ zu stehen oder wenn sie nach dem Handballspiel beim Duschen misstrauisch beäugt wurden, wuchsen bei ihnen im Verlauf von drei Jahren deutlich das Selbstbewusstsein und der Mut, zu sich selbst zu stehen. Selbst wenn später neue Probleme hinzukamen, etwa geeignete Partner*innen für den Abschlussball zu finden. Insgesamt zeichnet der sensibel inszenierte Film aber ein sehr positives Bild von Toleranz und Verständnis in der Klasse und vermittelt einen relativ freien Umgang mit der Thematik. Dabei spielen wohl auch mediale Einflüsse eine Rolle wie die seit 2009 jährlich erscheinende Reality-Castingshow RuPaul’s Drag Race mit Dragqueen RuPaul, in der Dragqueens im Wettbewerb antreten. Eine persönliche Begegnung mit diesen Stars, die den Jugendlichen Mut und Anerkennung zusprechen, findet im Verlauf des Films statt.

Ein Prozess, der Jahre dauert

Diskussionswert ist „GABI, between ages 8 to 13“ (Dokumentarfilmwettbewerb) von Engeli Broberg allein schon deswegen, weil die schwedische Langzeitdokumentation über ein Mädchen zwischen Einsamkeit, Außenseitertum und Identitätssuche bereits im Alter von acht Jahren einsetzt. Ihren Vater hat Gabi nie getroffen, er soll irgendwo in Italien leben. Damals ist sie wie viele andere Mädchen einfach nur fußballbegeistert und hat sich einen italienischen Fußballspieler zum Vorbild genommen. Sie kümmert sich wenig darum, ob sie mehr als Junge oder als Mädchen wahrgenommen wird, wenn sie sich nach Lust und Laune mal so oder so kleidet. Auch in diesem Fall wächst das Bewusstsein über die selbstbestimmte Identität mit fortschreitendem Alter und durch die einsetzende Pubertät sowie einen Umzug von Stockholm in die mittelschwedische Kleinstadt Dalarna und in eine ganz neue fremde Umgebung. Machte sie sich anfangs noch Sorgen darüber, was die anderen von ihr denken, ist sie als 13-Jährige rein äußerlich nicht mehr von einem Jungen zu unterscheiden. Die alte Identität beziehungsweise ihre Kindheit wird in einem kleinen Koffer unweit eines Sees begraben. Diese Szene markiert den äußeren Rahmen des Films zu Beginn und am Ende des Films.

"GABI, between ages 8 to 13" Quelle: Nordische Filmtage

Die Filmemacherin hatte Gabi und ihre Mutter indirekt bei Werbeaufnahmen kennengelernt und sich nach längeren Gesprächen entschieden, mit Gabi mehr als nur ein Kurzporträt zu machen. Sie erkannte sich und ihre eigenen Gefühle im gleichen Alter von acht Jahren in diesem Mädchen wieder, als sie selbst noch nicht genau wusste, was einen Jungen oder ein Mädchen ausmacht, und erst später erkannte, dass sie lesbisch ist. So gesehen hat Engeli Broberg genau die richtige Hauptfigur für ihren Film gefunden, wobei sie sich ihrer Verantwortung bewusst war, einen so jungen Menschen in Bezug auf diese Thematik über Jahre hinweg mit der Kamera zu begleiten. Bei Gabis Mutter und ihrem Stiefvater fand sie volle Unterstützung und präsentierte ihnen das gesamte Filmmaterial. Sie beendete die Dreharbeiten, als Gabi 13 Jahre alt wurde, denn in diesem für die weitere Entwicklung entscheidenden Alter würde die Perspektive eines Kindes verlorengehen, die den gesamten Film bestimmt und die in vielen Großaufnahmen auf Augenhöhe zum Ausdruck kommt.

Gleichwohl hinterlässt der Film einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits wirkt alles sehr authentisch, aus dem echten Leben gegriffen, wie ein Glücksfall des dokumentarischen Filmschaffens. Andererseits lässt sich das Wissen nicht verdrängen, dass allein schon die Anwesenheit einer Kamera die Wirklichkeit beeinflusst. Eine Szene irritiert hier besonders. In der neuen Schule, in der sich Gabi nicht wohlfühlt und noch keine Freund*innen hat, findet in der Turnhalle ein Basketballspiel statt, doch niemand wirft ihr den Ball zu, obwohl sie frei steht und mit lauter Stimme wiederholt auf sich aufmerksam macht. Genau darüber beklagt sich Gabi dann konkret im Anschluss, was die Szene nachinszeniert erscheinen lässt. Es wäre aber unzulässig, der Filmemacherin zu unterstellen, sie hätte Gabis eigene Wahrnehmung und ihre zum Ausdruck gebrachten Gefühle unzulässig beeinflusst. Und möglicherweise war es sogar Absicht des Films, auf diese subtile Weise auf die Problematik des dokumentarischen Filmemachens hinzuweisen, gerade wenn noch in der Entwicklung begriffene Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt stehen.

"The Most Beautiful Boy in the World" (c) Mario Tursi 1970

Fehlverhalten hinter der Kamera

Zusammen mit dem offenen Umgang mit sexuellen Identitäten, der in skandinavischen Ländern vielleicht schon immer ausgeprägter als in südlichen Ländern war, ist offenbar auch die Sensibilität für Fehlverhalten hinter der Kamera gewachsen. Möglicherweise hat das mit den publik gewordenen Missbrauchsfällen der unterschiedlichsten Art zu tun, die sich bekanntlich nicht auf den Filmbereich beschränken. Als Luchino Visconti 1971 seinen Filmklassiker „Tod in Venedig“ drehte, war ein solches Bewusstsein noch nicht besonders ausgeprägt. Kristina Lindström und Kristian Petri zeichnen in ihrem erschütternden Dokumentarfilm „The Most Beautiful Boy in the World“ (Dokumentarfilmwettbewerb) die Tragödie des schwedischen Schauspielers und Musikers Björn Andrésen nach. Er übernahm in Viscontis Film die Rolle des Jungen Tadzio, der zum Objekt der Begierde für einen alten Mann wird. Andrésen wurde nach langer Suche von dem homosexuell orientierten Altmeister entdeckt und von ihm schamlos vermarktet und ausgenutzt, wobei der unerwartete Ruhm dem unerfahrenen Darsteller zusätzlich schwer zusetzte. Schließlich ging es bei dem im Filmtitel aufgegriffenen Attribut nicht um einen „Schönheitswettbewerb“, sondern um eine sexuell konnotierte Bedeutung. Auch damals schon gab es Zeitgenossen, die zumindest ahnten, dass dem Jungen großes Unrecht widerfahren ist, aber noch kein öffentliches Bewusstsein darüber.

Das ist das eindeutig Positive an diesen diskussionswürdigen Filmen: Heute wird dieses Unrecht nicht mehr stillschweigend geduldet – und darüber hinaus haben Kinder und Jugendliche inzwischen größere Chancen, ihre eigene sexuelle Orientierung zu entdecken und zu leben.

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