Festivals | | von Holger Twele
Von starken Außenseiterinnen und Mädchencliquen
"Lucas" 2019
Beim 42. LUCAS-Filmfestival fielen einige Produktionen auf, die von Regisseurinnen gedreht wurden oder in denen aus der Perspektive junger Frauen oder Mädchen erzählt wird. Um Gender-Fragen ging es dabei nur bedingt. Die Filme überzeugten inhaltlich wie formal. Eine Auswahl.
Filme, zumal da sie selten chronologisch erzählt und viele Szenen nur angespielt werden, nutzen das natürliche Bedürfnis des Menschen, aus Fragmenten einen Sinnzusammenhang herzustellen. Nicht anders ist es bei einem Festivalprogramm und seinen Schwerpunkten und Trends. Selten ist eindeutig zu klären, ob bestimmte Themen den jeweiligen Zeitumständen geschuldet oder eine sehr persönliche Auswahl der Festivalmacher*innen sind, vielleicht auch nur widerspiegeln, was angesichts der herrschenden Festivalkonkurrenz und einer stets überschaubaren Menge an neuen Produktionen zu bekommen war. Solche Unwägbarkeiten vorausgesetzt, beeindruckte das Programm der 42. Ausgabe von LUCAS – Internationales Festivals für junge Filmfans in Frankfurt am Main mit einer großen Anzahl von Filmen, bei denen Frauen Regie führten und/oder Mädchen und junge Frauen die zentralen Figuren waren. Das Bemerkenswerte an diesem Trend ist allerdings weniger der Gender-Aspekt, sondern es sind die erzählten Geschichten selbst und ihre Umsetzung.
Starke Außenseiterinnen
Starke Mädchen im Film, die in Coming-of-Age-Geschichten fast immer auch eine Außenseiterposition einnehmen, sind zum Glück schon lange keine Seltenheit mehr. Im kanadischen Spielfilm „Une colonie“ (2018) von Geneviève Dulude-De Celles kämpft eine neu in die Schule aufgenommene weiße Zwölfjährige aber nicht nur um Anerkennung in einer fremden Umgebung und unter Gleichaltrigen. Sie freundet sich mit einem Jungen aus dem Abenaki-Reservat an und lernt durch ihn, die Welt mit anderen Augen zu sehen und ihre eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Es ist ebenfalls eine Zwölfjährige, die sich in der belgisch-niederländischen Produktion „Fight Girl“ (2018) von Johan Timmers nach der Trennung ihrer Eltern in einer fremden Umgebung zurechtfinden muss. Neue Freunde und ihren eigenen Weg findet sie durch das Kickboxen, wobei sie möglichen Vorurteilen zum Trotz gerade durch diese Sportart lernt, ihre Probleme anders als mit körperlicher Gewalt zu lösen. Dieser Film gewann 2019 schon den EFA Young Audience Award der Europäischen Filmakademie.
Schon etwas erwachsener sind die beiden Heldinnen in dem norwegischen Film „Harajuku“ (2018) von Eirik Svensson und dem französischen Beitrag „Les Métérorites“ (2018) von Romain Laguna. Der 15-jährigen Vilde aus Oslo rutscht der Boden unter den Füßen weg, nachdem ihre alleinerziehende Mutter Selbstmord begangen hat. Vilde möchte als Minderjährige unter keinen Umständen in ein Heim oder in eine Pflegefamilie kommen. Stattdessen versucht das einsame Mädchen mit den blaugefärbten Haaren, ihren Traum zu erfüllen, nach Japan zu reisen, um vielleicht an diesem Sehnsuchtsort ihre Trauer und ihre Wut über den abwesenden Vater zu verarbeiten. Dessen zickige neue Frau möchte um jeden Preis verhindern, dass er Kontakt mit seiner Tochter aufnimmt, was zu tragikomischen Verstrickungen führt, die mitunter etwas zu sehr von der Hauptfigur ablenken. Was den Film neben den Tabuthemen Tod und Trauer jedoch einzigartig macht, sind die starken Bilder eines in Schnee und Eis erstarrten Landes und die Farbdramaturgie. Blasse, kalte, künstlich wirkende Farben stehen für ihr Gefühlswelt und werden in ihrer Traumwelt mit bunten hellen Farben aus Japan kontrastiert.
Mit ihrer ruppigen und abweisenden Art wirkt die 16-jährige Nina aus Südfrankreich in „Les Métérorites“ zunächst nicht gerade sympathisch, zumal sie auch noch kräftig lügt und stiehlt. Als sie einen Meteoriten sieht, der in der näheren Umgebung einschlägt und ihr die Brüchigkeit des Lebens und ihrer Existenz vor Augen führt, betrachtet sie das als kosmisches Zeichen. Sie verliebt sich in den älteren Morad, der aus Algerien stammt, und gibt sich ihm mit Haut und Haaren hin, selbst wenn diese Liebe nicht erwidert wird und Morad ganz eigene Pläne verfolgt. Wie ein roter Faden durchzieht diesen Debütspielfilm die enge Verknüpfung der ganz persönlichen Lebenswelt und die mitunter groteske Suche nach Orientierung mit einer kosmischen Perspektive, denn Nina interessiert sich nicht nur für das All, sie arbeitet auch in einem Dinosaurier-Freizeitpark, der über die Auslöschung fast des gesamten Lebens vor 165 Millionen Jahren auf der Erde informiert. Bei so viel Existenzialismus ist es kaum verwunderlich, dass Sexualität und Körperlichkeit zum festen Bestandteil, fast schon zur selbstverständlichen Nebensache von Ninas Leben werden und zugleich ausführlich ins Bild rücken.
Mädchencliquen
Diese Betonung der Körperlichkeit, die im Film aber nicht mit voyeuristischem Blick zum Ausdruck kommt, findet sich ebenfalls in anderen Wettbewerbsbeiträgen. Daraus gleich den Schluss ableiten zu wollen, die heutige Jugend sei aufgeklärt, vorurteilsfrei und sexuell „befreit“, wäre verfehlt, selbst wenn der Titel „Charlotte hat Spaß“ (2018) von Sophie Lorain aus Kanada dies suggerieren mag. Die Entdeckung der eigenen Sexualität und die ganz persönliche Suche nach dem „richtigen“ Umgang damit werden wohl auch in Zukunft ein zentrales Moment des Coming-of-Age-Films bleiben, wie die Regisseurin unterhaltsam zu vermitteln weiß.
Charlotte, Mégane und Aube sind seit ihrer Kindheit unzertrennliche Freundinnen. Kein Wunder, dass sie sich auch gemeinsam um einen Ferienjob in einem Warenhaus für Spielzeug bewerben, dort aber ganz unterschiedliche Erfahrungen mit den Männern machen, von denen die meisten nur das eine im Sinn haben. Kurz zuvor hatte Charlottes Freund ihr eröffnet, dass er schwul sei, woraufhin diese ihren Kummer mit neuen Männerbekanntschaften zu überwinden hofft. Als sich auf einer Halloween-Party herausstellt, dass sie offenbar bereits mit allen jungen Männern in der Firma geschlafen hat, ist sie als Schlampe gebrandmarkt. Das Gegenmittel scheint eine völlige Abstinenz, an der sich auch die beiden Freundinnen beteiligen sollen, obwohl diese sich gerade erstmals wirklich in einen Jungen verliebt haben. In elliptischer Erzählweise dekliniert der Film die ganze Palette von Missverständnissen, Anschuldigungen, Unzufriedenheit und Frust zwischen den Geschlechtern durch, bis doch noch ein vorläufiges Happyend in Aussicht steht.
Deutlich pessimistischer, aber auch kämpferischer und vor allem ästhetisch sehr unkonventionell ist der bereits in der Sektion Generation der Berlinale 2019 programmierte Film „Knives and Skin“ (2019) von Jennifer Reeder. Ausgangspunkt ist auch hier eine Mädchengruppe von jungen Tänzerinnen, die in einer US-amerikanischen Kleinstadt gemeinsam für einen Homecoming-Ball proben. Über Nacht verschwindet eine von ihnen spurlos, wobei allenfalls das Publikum Anhaltspunkte erhält, was in dieser Nacht passiert sein könnte. Der Sheriff tappt im Dunkeln, die Mitschüler*innen haben andere Sorgen, wobei sich die zur Schau getragenen schönen Fassaden der Bewohner*innen immer mehr als böse Farce entlarven. Die verschachtelte und formal stark überzogene Erzählweise fasziniert, macht es dem Publikum aber nicht immer leicht, dem Film zu folgen, zumal es deutlich an positiven Identifikationsfiguren mangelt und die Gesellschaftskritik im Vordergrund steht.
„Skate Kitchen“ (2018) von Crystal Moselle, ein weiterer Film aus den USA, spielt in der quirligen Metropole New York in der Skater-Szene der Stadt. Die 18-jährige Camille mit hispanischen Wurzeln aus dem Zuwandererviertel Long Island träumt davon, in der All-Girls-Crew Skate Kitchen aufgenommen zu werden. An Talent mangelt es ihr weniger als an Selbstbewusstsein, zumal die Mutter strikt dagegen ist, dass Camille ihre Gesundheit aufs Spiel setzt. Sich gegen die Eltern durchzusetzen, den eigenen Weg zu finden und Anerkennung in der Peergruppe zu finden sind typische Topoi auf dem schwierigen Weg ins Erwachsenenleben, genauso wie Liebe, Eifersucht und Verrat, die durch einen Jungen hinzukommen, in den sich Camille verliebt. Was den Film allerdings zu einem besonderen Ereignis macht, ist das von Kamera, Schnitt und Musik nahezu perfekt eingefangene Lebensgefühl dieser Jugendlichen. Detailaufnahmen in leichter Untersicht, schnelle Schnitte, Sequenzmontagen mit von Musik getragenen Stimmungsbildern, Drogen, Sexualität in vielen Formen, dazu Zeitlupen- und Weitwinkelaufnahmen und immer wieder atemberaubende Skater-Szenen machen den Film zusammen mit ihrer charismatischen Hauptdarstellerin zu einem visuellen Abenteuer.