Festivals | | von Stefan Stiletto
Von Katzen, Schnecken und Kinderhelden
Unsere Pinnwand zu „Young Audience“ auf den Nordischen Filmtagen in Lübeck 2024
Wenn eine Katze sich vor einer Flut in Sicherheit bringt, unterdessen einer Ampel das Licht ausgeht, aus einem Horrorstoff ein Jugendfilm wird und Kinder auf der Leinwand wie im Kinosaal den Erwachsenen zeigen, was sie denken und können. Beobachtungen und Gedanken zum Kinder- und Jugendprogramm der diesjährigen Nordischen Filmtage von Reinhard Kleber und Katrin Hoffmann.
Ein historischer Tag
(von Reinhard Kleber)
Der Auftakt der 66. Nordischen Filmtage in Lübeck fand an einem geschichtsträchtigen Tag mit gleich zwei wichtigen politischen Ereignissen statt: Das erste war der klare Sieg von Donald Trump bei der US-Präsidentschaftswahl. Bei der Eröffnungszeremonie spielte die Moderatorin Loretta Stern darauf an, als sie sagte: „Es ist ein Geschenk, dass wir anschließend nach Norden schauen und nicht über den Atlantik.“ Vom zweiten Ereignis erfuhren die Gäste im Kino Cinestar Stadthalle erst nach der Kinovorführung des Films „Flow“ (2024) von Gints Zilbalodis: Die regierende Ampelkoalition war zerbrochen. Beim anschließenden Empfang im Lübecker Dom gab es daher sehr viel Gesprächsstoff.
Ein Ausrufezeichen zu Beginn
(von Reinhard Kleber)
Der Eröffnungsfilm „Flow“ des lettischen Regisseurs Gints Zilbalodis (der 2019 schon mit der Einmannproduktion „Away“ auf sich aufmerksam gemacht hat) setzt gleich zu Beginn ein Ausrufezeichen. Da entdeckt eine schlanke schwarze Katze einen Hasen, jagt ihn, ehe sie von vier Hunden entdeckt wird, die nun sie quer durch den Wald verfolgen. Mit einem Trick gelingt es der Katze, die Hunde zu überlisten: Sie rennen an ihr vorbei. Doch dann dröhnt es in der Ferne. Die Hunde kehren zurück, ignorieren die Katze jedoch, laufen vorbei. Auch viele Rehe, Hirsche und Vögel laufen oder fliegen vorbei. Dann sehen wir warum: Eine gigantische Flutwelle rast heran, die die Katze mitreißt. Nur mit Mühe und Not kann sie sich an Land retten. Doch das Wasser steigt unaufhörlich. Ein packender Auftakt für einen grandiosen Film, der mit imposanten Bildfolgen über eine Art Sintflut wichtige Themen unserer Zeit aufgreift.
Es war einmal ein Horrorfilm
(von Reinhard Kleber)
Das Jugenddrama „My Fathers’ Daughter” (2024) von Egil Pedersen aus Norwegen erzählt von der 15-jährigen Elvira, die sich in einer abgelegenen Region Norwegens mit ihrer Identität als Angehörige der Sami-Minderheit auseinandersetzen muss, als zum ersten Mal ihr Vater vor ihr steht. Ursprünglich startete das Filmprojekt aber nicht als Coming-of-Age- und Familiendrama, sondern als Horrorfilm, verriet der Produzent Mathis Ståle Mathisen im Publikumsgespräch nach einer Kinovorführung in Lübeck. Seinerzeit suchte das International Sámi Film Institute gezielt nach Horror Content. Daraufhin schrieb Egil Pedersen ein entsprechendes Drehbuch, in dessen Mittelpunkt die Mutter Elviras stand. „Doch nach und nach hat sich herausgestellt, dass diese Figurenkonstellation nicht passt“, erzählte der Produzent. Die interessanteste Figur war vielmehr Elvira. So wurde sie die Hauptfigur und der Film entwickelte sich folgerichtig in eine andere Richtung. Also kein Horrorfilm mehr.
Unter sich
(von Reinhard Kleber)
In dem lettischen Kinderfilm „Bum!“ (2024) von Marta Selecka und Andra Doršs sind die Kinder fast durchweg unter sich. Bewusst lassen die Regisseurinnen in ihrer knalligen Komödie den Heranwachsenden das Feld, Erwachsene kommen nur am Rande kurz vor, etwa eine Lehrerin an der Schule, Eltern sind dagegen völlig abwesend. Begründung: Für zwölf- oder 13-jährige Schülerinnen und Schüler gibt es Wichtigeres als Eltern. In der Tat können sich die Kinder und Jugendlichen hier auch untereinander das Leben allein schwer machen. So wird die stabile Freundschaft zwischen Hugo und Tom auf eine harte Bewährungsprobe gestellt, als Hugo sich bei einem Unfall mit dem Skateboard die Nase bricht und im Krankenhaus durch einen Kurzschluss Superkräfte erlangt. Während er damit einen nervigen Klassenkameraden zum Schweben bringen kann, Angeber aus den höheren Klassen beeindruckt und durch die Manipulation des Stundenplans in der Klasse auch sonst sehr beliebt macht, wendet sich der frustrierte Tom der neuen coolen Klassenkameradin Karla zu, die noch besser Skateboard fahren kann als die beiden Jungs.
Der Film nutzt das kindliche Streben nach größtmöglicher Beliebtheit in der Peer Group und den Menschheitstraum von der grenzenloser Wunscherfüllung für ein temporeiches und plakatives Lustspiel, in dem Hugo und Tom allmählich die Werte von Freundschaft und Kameradschaft erkennen. Allerdings macht sich nach und nach bemerkbar, dass größere Geschwister oder ältere Schüler als filmische Antagonisten nicht ausreichen, es fehlt den jungen Protagonisten schlichtweg der dramaturgische Widerpart von Respektspersonen wie Eltern, die sonst in Kinderfilmen den Minderjährigen Paroli bieten.
Müde Herzen
(von Reinhard Kleber)
Manchmal ist es frappierend zu sehen und zu hören, mit welcher Reflexionstiefe auch kleine Kinder schon über den Tod sprechen. In „Todd & Super-Stella“ (2024) hält die norwegische Regisseurin Mari Monrad Vistven über Jahre hinweg fest, wie ihre Kinder Todd und Stella aufwachsen. In ihrem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm sehen wir, wie sich die Geschwister oft zanken, aber ebenso oft wieder vertragen. Am Tag vor dem ersten Schultag Todds sitzen die beiden vor dem Elternhaus zusammen, da entdeckt Stella eine Schnecke. Weil das Tier sie stört, will sie es töten. Doch der etwas ältere Bruder greift ein und gibt zu bedenken: „Wenn du die Schnecke umbringst, ist sie für immer weg. Sie hat keine zwei Leben.“ Stella zeigt sich wenig beeindruckt und meint: „Ich finde eine neue Schnecke.“ Doch Todd beharrt auf seinem Appell, keine Lebewesen ohne Not zu töten, und fügt nachdenklich hinzu: „Ich glaube, man verschwindet für immer. Man stirbt, weil das Herz zu müde ist, um zu schlagen.“
Denksport im Kinosaal
(von Katrin Hoffmann)
Kinder sind in einigen mentalen Disziplinen besser als die Erwachsenen, zum Beispiel beim Memoryspielen. Im Kurzfilmprogramm der Nordischen Filmtage in Lübeck konnten die jungen Zuschauer*innen ihre Fähigkeiten auf spaßige und laute Art und Weise unter Beweis stellen. Krista Burānes „The Magic Wardrobe“ (2024) ist ein 25-minütiger Kompilationsfilm aus Lettland, der in fünf einzelnen Episoden erzählt, was in einem magischen Schrank alles so drinstecken kann. Sehr unterschiedliche Animationskünstler*innen haben die jeweiligen Filme animiert, die sich schon für Kinder ab vier Jahren eignen. Für die Nachbereitung hat die Filmproduktion Spielmaterial entwickelt, das die Macher*innen dann mit dem Publikum ausprobiert hat. Und hier kommen wir zum Unvermögen der Älteren im Saal.
Angelehnt an geometrische Formen aus einem der Kurzfilme wurde eine aktive Spielübung im Nachgang des Films auf die Leinwand geworfen: Viereck, Kreis und Dreieck. Die Figuren waren in verschiedener Reihenfolge und Anzahl angeordnet und man musste, je nachdem worauf gedeutet wurde, zum Viereck mit den Füßen stampfen, beim Dreieck klatschen, beim Kreis auf die Schenkel klopfen und dann zu jeder Figur einen anderen Laut von sich geben. Natürlich konnten die Kinder sich das merken: Stampfen und Rufen, Stampfen und Rufen, Klatschen und Schreien, Schenkelklopfen und – Moment, wie war das noch mal?
Der Saal hat getobt, die Kinder waren überglücklich, und die Erwachsenen haben das Kino mit ihren Sprösslingen schließlich ein wenig kleinlaut verlassen.