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Festivals | | von Stefan Stiletto

Tiere, Chips und Schicksalsschläge

Unsere Pinnwand zum Schlingel 2025

Ganz schön schwer, im umfassenden Programm des Internationalen Festivals für junges Publikum in Chemnitz den Überblick zu behalten. Ein Streifzug durchs Programm und durchs Festivalgeschehen mit kurzen Eindrücken und Gedanken von Katrin Hoffmann, Verena Schmöller und Holger Twele – über beliebte Erzählmuster, niedliche tierische Protagonist*innen, gefühlige Musik und ganz unterschiedliche Abstimmungsformen.

Filmstill aus Der letzte Walsänger
"Der letzte Walsänger" (c) Telescope Animation

Ein Tier muss sein

(Von Katrin Hoffmann)

In beinahe jedem Kinderfilm des Festivals kamen Tiere vor. Aber Geschichten mit üblichen Haustieren wie Hunden oder Katzen sind trotz ihrer Beliebtheit offensichtlich schon auserzählt. Der Trend geht stattdessen zu exotischen Tieren. Ganz prominent: Der Strauß Kobus in „Bird Boy“ (Joel Soisson, 2025), der von dem Waisenjungen August ausgebrütet wird. In „Ella und Freunde: Mission Otter“ (Elin Grönblom, 2025) wiederum rettet die Titelheldin eine Otterfamilie. Und in „Mein Papa, der Bär“ (Maksim Maksimow, 2025) verwandelt sich ein Vater in einen Bären. Der schönste unter den Tierfilmen war dann aber doch wieder eine Hundestory: „Runt – Der kleine Streuner“ (John Sheedy, 2024) erzählt von einem Mischlingshund, der bei Wettkämpfen siegen soll.

Die Reaktionen des jungen Publikums sind immer sehr ähnlich, denn bei allen Tieren wird stets der Niedlichkeitsfaktor in Szene gesetzt. Das Straußenküken ist sowieso sehr süß, bei dem ausgewachsenen Vogel geht die Kamera dann gerne auf die ausdrucksstarken großen Glupschaugen, und auch der Otter lässt ein „Oh wie süß!“ durch den Kinosaal tönen. Obwohl es immer wieder heißt, mit Tieren und Kindern zu drehen sei nicht leicht, gehen die Regisseur*innen das Risiko ein. Der Erfolg gibt ihnen Recht. Tiere gehen einfach immer an der Kinokasse. Nicht nur die magischen.

Ein gebrochenes Bein tut’s auch

(Von Verena Schmöller)

Es sind diese kurzen Momente, die entscheidend sind. Ein unachtsamer Augenblick, zur falschen Zeit am falschen Ort, ein dummer Zufall. Wenn ein Unfall einen geliebten Menschen mit sich fort- und aus dem Leben reißt, bleiben immer andere zurück, die trauern, verkraften, weiterleben müssen. Beim Schlingel gab’s Unfälle als Katalysator für die Filmhandlungen zuhauf. Diese auch im Bild zu zeigen, wie in „Der letzte Walsänger“ (Reza Memari, 2025), ist im Kinderfilm doch eher eine Seltenheit. Die Ausweichstrategien sind dagegen, wie deutlich wurde, oft originell und klug.

In „Semillas – Bis der Regen fällt“ (2024) von Eliana Niño, „Kaye“ (2025) von Juan Pablo Cáceres oder „Der Zauber der blauen Geige“ (2024) von Anne McCabe ist das Unglück jeweils über die Audioebene vermittelt: ein Aufprall, ein Schuss, das Quietschen von Reifen. Die beiden Wagen, die in einer Kurve aufeinander zufahren, sind noch im Bild zu sehen, der Zusammenprall aber wird ausgespart. Auch in „Wie Wasser auf der Haut“ (2025) von Patricia Velásquez bleibt das Ereignis unsichtbar; es wird lediglich darüber gesprochen. Eine besondere Variante ist der Unfall der Mutter in „Ein Sommer in Sommerby“ (2025) von Mara Eibl-Eibesfeldt: Die Familie telefoniert noch mit ihr per Videochat, sie ist gerade dabei, die Kinder zu ermahnen, doch nun endlich mit dem Packen für den Urlaub anzufangen. Dann ist ein Hupen zu hören, ein Scheppern, und der Handybildschirm wird schwarz. Als Erwachsener weiß man sofort, was passiert ist, als Kind vielleicht auch, aber Bilder des Schreckens gibt es nicht. Es ist davon die Rede, dass ein Bein operiert werden müsse. Und das ist gut so. Die Welt ist voller Leid, der Kinderfilm voll von gestorbenen Müttern und Vätern. Manchmal reicht es auch, wenn das Bein kaputt ist, um Pläne durcheinanderzubringen und das Wachsen der Kinderfiguren anzukurbeln.

Filmstill aus Honey
"Honey" (c) Tine Harden

Ukulelen und Irish Fiddles

(Von Holger Twele)

Damit auch wirklich jede*r versteht, wie sich eine Szene anzufühlen hat, greifen Filme gerne auf ziemlich eindeutige Musikuntermalung zurück. Wie es auch anders gehen kann, zeigen zwei Produktionen mit Realmusik aus dem Schlingel-Programm.

In „Honey“ (2025) von Natasha Arthy, die seinerzeit mit „Fightgirl Ayse“ (2008) erfolgreich war, hofft die 13-jährige Protagonistin nach einem Schulwechsel, mit ihrer Ukulele in eine Schulband aufgenommen und akzeptiert zu werden. Auf der Suche nach der Herkunft des Instruments begegnet sie ihrem bislang unbekannten Großvater und deckt ein großes Familiengeheimnis auf. Noch stärker bestimmt die Musik das Geschehen in dem irischen Film „Der Zauber der blauen Geige“ (2024) von Anne McCabe. Um ihrem nach einem Unfall im Koma liegenden Vater zu helfen, möchte die zehnjährige Molly ihre traditionelle irische Violine so gut spielen lernen, dass heilsame Kräfte durch Magie entstehen. Ein schwerkranker alter Musiker im Reha-Zentrum erklärt sich nach anfänglichem Widerstand bereit, sie zu unterrichten. Nicht nur die aufkeimende Freundschaft zwischen Jung und Alt ist bemerkenswert. Auch die irische Geigenmusik voller Energie und Lebenskraft und die Musikfeste der irischen Bevölkerung tragen entscheidend dazu bei, dass man beschwingt den Kinosaal verlässt. Und die Hauptdarstellerin Edith Lawlor in ihrer ersten Kinorolle spielt die Irish Fiddle sogar wirklich selbst. Sie ist in Irland ein echter Champion.

Der Toiletten-Seismograph

(Von Katrin Hoffmann)

„Ella und ihre Freunde – Mission Otter“ (Elin Grönblom, 2025) ist ein wirklich spannender Film. Die Grundschüler*innen blieben gebannt im Kino sitzen, um zu sehen, ob die Otterfamilie vor der Abholzung des Waldes gerettet werden kann. Daher war nach dem Film der Ansturm auf die Toiletten umso größer. In der Schlange stehen Drittklässlerinnen und haben einen Plan: „Wir gehen immer zu zweit rein, dann geht es schneller.“ Interessante Strategie.

Die gleiche Damentoilette zwei Tage später. Während des Jugendfilms „Verstoßene“ (Grégory Lucilly, 2024) stehen einige ältere gelangweilte Mädchen in der üblichen langen Schlange davor. Sie sind offensichtlich alle aus ihrem Film geflohen. Nichts bewegt sich vorwärts unter den Wartenden. Auf Nachfrage, was denn da los sei, kommt die lapidare Antwort: Die chatten alle da drinnen. Und tatsächlich: Nach strenger Ermahnung und dem Hinweis, dass die Wartenden schon bis in die Halle stehen, kommen aus den Kabinen jeweils drei (!) Teenagerinnen, kichernd, ihre Handys noch in der Hand. Ob der Film ihnen zu langweilig oder aufgrund der Untertitel zu anstrengend war? Die Toiletten jedenfalls können ein Seismograph sein, wie ein Film beim Publikum ankommt.

Ein Tisch mit Plastikchips für den Publikumspreis
Welcher Film war am besten? Chips für den Publikumspreis beim Schlingel. (c) IFF Schlingel, Foto: Daniela Schleich

Eine Handvoll Chips

(Von Verena Schmöller)

Beim Schlingel werden die Publikumspreise mit Hilfe von Chips ermittelt: Kleine Plastikscheiben in bunten Farben, die man nach jeder Filmvorführung in eine Box einwerfen darf, wenn man den gesehenen Film für gut befunden hat. Manche der jungen Zuschauer*innen nahmen diese Aufgabe sehr ernst und gleich eine ganze Handvoll der Plastikchips in die Hand. Ob das die reine Freude war, die Chips wie Geldmünzen in ein Sparschwein zu werfen, oder aber die Begeisterung für einen Film, den sie „supersupergut“ oder „übel gut“ fanden, wie andere Kinder im Publikum ihre Bewertungen abgaben, das lässt sich im Nachhinein nicht rekonstruieren. Es wird den jeweiligen Filmen aber bestimmt geholfen haben, in der Rangliste der Publikumslieblinge nach oben zu klettern.

Ehrengeschlingelt

(Von Holger Twele)

Seit 2006 zeichnet das Festival in Chemnitz mit dem „Ehrenschlingel“ Menschen aus, die in besonderer Weise dafür eingetreten sind, den internationalen Kinderfilm zu stärken. Häufig waren die Geehrten Filmemacher*innen, etwa Václav Vorlícek, Rolf Losansky, Uschi Reich oder Arend Agthe. Manchmal arbeiteten sie aber auch „hinter den Kulissen“ wie etwa Christel und Hans Strobel als Herausgeber*innen der Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz. Zum 30-jährigen Jubiläum des Festivals erhielt den Preis nun der Filmpublizist Klaus-Dieter Felsmann, der sich schon vor der Wende aktiv für den nationalen und internationalen Kinderfilm engagiert hat, Mitglied der ersten Fachjury des Festivals war und sich bis heute unermüdlich für die Förderung des Kinderfilms einsetzt.

Festivalchef Michael Harbauer und Ehrenschlingel Klaus Dieter Felsmann
Festivalchef Michael Harbauer und Ehrenschlingel Klaus Dieter Felsmann (c) IFF Schlinge, Foto: Daniela Schleich

Kartensammlung

(Von Verena Schmöller)

Eine besonders schöne Tradition auf dem Schlingel Filmfestival ist es, für jeden Film eine eigene Postkarte zu drucken. Ganz gleich welchen Film man sieht, ganz gleich ob Weltpremiere oder Wiederaufführung: Am Eingang des Kinosaals kann man sich jeweils ein Kärtchen zum Film mitnehmen mit einem Standbild auf der Vorderseite und Inhaltsangabe und Filmdaten auf der Rückseite. Das ist Werbung für die Filme oder Vorfreude oder Vorabinfo kurz vor dem Film, vor allem aber auch Erinnerung an die Filme im Nachgang. Nach mehreren Tagen und vielen Filmen auf dem Festival hat man eine ganze Sammlung an bunten Karten im Gepäck – wie eine Art Protokollstapel und prima Gedächtnisstütze, die sofort den Tonus eines Films hervorholt und einen zurück mitnimmt in den Kinosaal.

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