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Festivals | | von Reinhard Kleber

Starke Familienbande

Max Ophüls Preis 2022

Traditionell sind im Wettbewerb des Filmfestivals Max Ophüls Preis Filme über Jugendliche oder zu Jugendthemen im weitesten Sinne zu entdecken. Im Rahmen der 43. Ausgabe des Saarbrücker Festivals standen insbesondere Familienkonflikte im Mittelpunkt der jugendrelevanten Beiträge.

"Bulldog" (c) Andre Szardenings

Beim Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken setzen sich die Nachwuchsregisseur*innen oft mit Sujets auseinander, die in engem Bezug zur jungen Generation stehen. Die thematische Bandbreite ist dabei häufig breitgefächert. Beim diesjährigen Festival, das wegen Corona hybrid und dezentral stattfand, reichte sie vom ambitionierten Zukunftsszenario über nachdenkliche Sozialdramen bis zur plakativen Beziehungskomödie. Als vordringlicher Themenkomplex kristallisierten sich im Wettbewerbsprogramm jedoch Familienkonflikte heraus.

Eine kuriose symbiotische Mutter-Sohn-Beziehung

Wie zwei alberne Teenager tollen Bruno und Toni in einer spanischen Ferienanlage herum, halten sich zärtlich in den Armen, schlafen später im gleichen Bett. Doch dann sagt der 21-Jährige „Mama‟ zu ihr. Später erfahren wir, dass Toni 15 war, als sie Bruno zur Welt brachte. Unreif, sprunghaft und chaotisch wirkt die Frau noch heute, während Bruno immer wieder ihre Dummheiten ausbügeln muss. Das gelingt nicht immer, deshalb haben die beiden auch schon neun Mal das Hotel gewechselt, in dem sie als Reinigungskräfte jobben. Ihre prekäre Beziehung gerät aus dem Lot, als Toni eines Tages die hübsche Hannah mitbringt, die nun Brunos Platz in ihrem Bett einnimmt.

In seinem ersten langen Spielfilm „Bulldog‟ schildert André Szardenings eine kuriose symbiotische Mutter-Sohn-Beziehung, die durch ein Liebesdreieck in Gefahr gerät. Mit leichter Hand zeichnet der Absolvent der Internationalen Filmschule Köln die sommerliche Urlaubsatmosphäre, die das planlose Leben des Duos prägt, das seit zwölf Jahren auf Ibiza herumtingelt. Und doch ist es eine toxische Beziehung. Obwohl sie keine Zukunft hat, bleiben Mutter und Sohn aneinander gekettet. Hannah hat da keine Chance. Mit starken Leistungen tragen Julius Nitschkoff und Lana Cooper das Außenseiterdrama und entschädigen damit für den schwachen Plot und zu viele offene Fragen zur Vorgeschichte.

Zwischen privatem Glücksstreben und gesellschaftlichen Normen

Wie zerstörerisch Familienbande sein können, arbeitet auch der gebürtige Chinese C. B. Yi in dem melancholischen Sozialdrama „Moneyboys‟ eindrucksvoll heraus. C. B. Yi, der bei Michael Haneke an der Filmakademie Wien Regie studierte, erzählt von dem smarten Jüngling Fei, der sich in einer Großstadt prostituiert und mit dem Lohn seine Familie im Heimatdorf unterstützt. Diese nimmt zwar gern das Geld, verachtet ihn aber für seine sexuelle Orientierung und erwartet, dass er endlich heiratet. Als Fei auf die Avancen seines Jugendfreunds Long aus seinem Dorf eingeht, der ihm nacheifert, begegnet er seinem inzwischen verheirateten Ex-Lover, mit dem ihn eine tragische Schuld verbindet.

Das subtile Underdog-Drama, das 2021 in der Cannes-Sektion Un certain regard uraufgeführt wurde, bringt den unauflösbaren Konflikt zwischen privatem Glücksstreben und gesellschaftlichen Normen stringent auf den Punkt. „Moneyboys‟ punktet mit einem ruhigen Erzähltempo und Plansequenzen, die den Schauspielern Raum zur Entfaltung geben, lässt unterwegs aber auch einige Erzählfäden liegen. Der Debütspielfilm gewann den renommierten Ophüls-Preis für den besten Spielfilm, den Preis für das beste Drehbuch und den Preis der Ökumenischen Jury.

"Soul of a Beast!" Quelle: Max Ophüls Preis

Ein unreifer junger Vater auf der Suche

Als geschickte Kombination aus Familiendrama, Coming-of-Age-Film und Liebesdreieckfilm entpuppte sich „Soul of a Beast‟, der zweite lange Film des Schweizers Lorenz Merz. Im Zentrum steht der 19-jährige Gabriel, der seinen dreijährigen Sohn Jamie allein großzieht. Als er mit seinem besten Kumpel Joel und dessen Freundin Corey in den Zoo eindringt und eine Giraffe und zwei Pumas weglaufen, bricht in Zürich das Chaos aus. In dieser drogenseligen Nacht verlieben sich Gabriel und Corey, was auch Joel nicht lange verborgen bleibt.

Merz erzeugt in seinem temperamentvollen Opus einen rauschhaften Strudel aus Motorradrennen und Straßenprotesten, wechselt souverän zu leisen intimen Liebesszenen und erzählt wunderbar von einer unerschütterlichen Vater-Sohn-Beziehung. Er verneigt sich mit Anspielungen in einem rätselhaften Off-Kommentar vor dem japanischen Kino, wechselt souverän die Tempi und die Farben des komplexen Soundtracks und verwischt gekonnt die Grenzen zwischen Realität, Traum und Fantasie. Für die bildgewaltige Inszenierung gewann Merz den Preis für die beste Regie. „Ein Feuerwerk aus Bildern, Musik, Geräuschen, Sinnlichkeit und Magie. Unberechenbar, unvorhersehbar‟, jubelte die Jury. Der Zürcher Regisseur erhielt zudem den Spielfilm-Preis der Filmkritik, der Hauptdarsteller Pablo Caprez gewann für die Darstellung des Gabriel einen von zwei Preisen für den Schauspielnachwuchs.

"Anima - Die Kleider meines Vaters" (c) Flare Film/Falk Schuster

Gespräch mit dem verstorbenen Vater

Gleich zwei Preise gewann auch „Anima – Die Kleider meines Vaters‟ von Uli Decker: den Ophüls Preis für den besten Dokumentarfilm und den Publikumspreis für diese Gattung. In einem fiktiven Off-Dialog mit ihrem toten Vater enthüllt die aus Oberbayern stammende Regisseurin ein folgenreiches Familiengeheimnis. Als ihr Vater Helmut tödlich verunglückte, übergab ihre Mutter Monika der jungen Frau eine Kiste mit Fotos und Tagebüchern, die enthüllen, dass der Lehrer Helmut in der Provinz jahrzehntelang heimlich als Transvestit lebte. Nun versteht sie, warum sie zu Lebzeiten stets eine unüberwindliche Distanz zum Vater spürte.

Mit Hilfe von Fotos, Filmen, Dokumenten, Interviews mit Verwandten und Freund*innen des Toten erschließt sich allmählich eine zärtliche Tochter-Vater-Beziehung mit tragischer Note. Geschickt verknüpft Decker die Nacherzählung des väterlichen Lebens mit Reflexionen über den eigenen Widerstand gegen traditionelle Geschlechterrollen und Lebensmodelle: So trägt Uli als Kind gerne Hosen statt Röcke und will anders als ihre angepasste Schwester Cordula keine Prinzessin werden, sondern Pirat oder Papst. Damit die Familienchronik nicht zu ernst und bedrückend wird, hat Decker immer wieder kurze animierte Sequenzen zur humoristischen Auflockerung eingebaut. Sechs Jahre hat sie an diesem sehr persönlichen Porträt gearbeitet. Die Mühe hat sich gelohnt, spiegelt „Anima‟ doch im tragischen Einzelfall strukturelle Probleme einer Gesellschaft, die sich noch immer mit der Vielfalt sexueller Identitäten schwer tut.

Mittellange und kurze Geschichten über Orientierungssuchen und Außenseiter

Unter großem Druck steht auch Gery in dem Filmdrama „Steh auf du Sau!‟ aus dem Wettbewerb Mittellanger Film. Der 16-jährige Gery tut sich schwer mit dem aggressiven Gehabe in der aggressiven Fußballmannschaft, in die er auf Drängen seines Vaters gewechselt ist. Er leidet unter der Scheidung der Eltern, die sich ständig streiten. Und seine Freundin Hannah macht Schluss mit ihm, weil sie sein Schweigen nicht mehr erträgt. Dem Wiener Regisseur Florian Moses Bayer genügen wenige visuelle Pinselstriche, um in dem 31-minütigen Coming-of-Age-Drama latente und offene Konflikte zu skizzieren. Soll Gery die Kickerkarriere einschlagen und doch als Austauschschüler nach Irland gehen und so der Enge des Dorfes entfliehen? Das atmosphärisch dichte Jugendporträt über eine schmerzhafte Orientierungssuche macht Appetit auf Bayers nächstes Werk.

"Steh auf du Sau!" (c) Maximilian Smoliner

Ein hilfloser Vater kommt auch in „Lullaby‟ von Magdalena Chmielewska vor. Um seine 17-jährige Tochter Eva, die einfach nicht mehr schlafen kann, zu trösten, sagt er einmal: „Alles wird wieder gut sein.‟ Doch nichts wird gut, denn mit ihrem bizarren Verhalten vergrault Eva zunehmend Freund*innen und Bekannte: Sie will unbedingt bei ihnen übernachten und beobachtet sie dann beim Schlafen. Wenn Eva nachts wie ein Gespenst herumirrt, erscheint ihr die Welt immer fremder. Das stimmungsvolle 21-minütige Außenseiterdrama der Absolventin der Wiener Filmakademie wurde in Saarbrücken als bester Kurzfilm ausgezeichnet.

Und jenseits von Familienkonflikten? Haben Sie schon einmal gesehen, wie sich eine Lehrerin und ihre minderjährige Schülerin verprügeln? Genau das zeigt Moritz Geiser in seinem 22-minütigen Kurzspielfilm „Warum begeht Helen Koch schweren Kraftwagendiebstahl?‟ Geiser, der an der dffb in Berlin studiert, setzt noch einen oben drauf und zeigt, wie die beiden Frauen wenig später auf dem menschenleeren Parkplatz – als seien sie zu einem Fight Club verabredet – erneut zusammentreffen und wild aufeinander einschlagen. Danach ruhen sich die verschrobene Helen und die Problemschülerin Mia gemeinsam aus und brechen zu einem merkwürdigen Kreuzzug gegen Normalmenschen auf. Auf provokative Weise zeigt Geiser, wie schnell ein ursprünglich begrenzter Konflikt eskalieren und außer Kontrolle geraten kann, so dass zwei Sonderlinge, die mit ihrem Alltag in einer als entfremdet empfundenen Umgebung hadern, in rabiater Radikalität gegen Konventionen und Normen rebellieren.

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