Festivals | | von Reinhard Kleber
Sehnsucht nach Stabilität, Geborgenheit und Heimat
Eindrücke von der Sektion Young Audience der Nordischen Filmtage 2023
Es sieht nicht gerade rosig aus in der Welt. Dies spiegelt sich auch im Filmprogramm für Kinder und Jugendliche der Nordischen Filmtage, das von jungen Menschen in prekären Verhältnissen und dysfunktionalen Familien erzählt, aber immer wieder auch mit selbstbewussten Protagonist*innen Hoffnung macht.
Klimaerwärmung, Umweltverschmutzung, Kriege, Corona-Pandemie, Inflation, Rezession, Diskriminierung, Reizüberflutung: Kinder und Jugendliche leben heute in düsteren Zeiten mit komplexen Problemlagen. Da überrascht es nicht, wenn sich bei ihnen Zukunftsängste ausbreiten und sie sich fragen: In welcher Welt kann ich künftig noch leben? Aber zunächst einmal müssen sich viele mit individuellen Schwierigkeiten herumschlagen und suchen nach Auswegen. Das wurde im Kinder- und Jugendprogramm der 65. Nordischen Filmtage in Lübeck deutlich, die mehrere Langfilme über Heranwachsende zeigten, die in prekären gesellschaftlichen Verhältnissen leben, die Opfer von Diskriminierung, Vernachlässigung und Gewalt sind, die sich aber auch gegen Ausgrenzung, Intoleranz und Hassbotschaften wehren, die sich mit Verzweiflung und Ängsten nicht abfinden und die nach sozialer Sicherheit, familiärer Geborgenheit und sexueller Identität suchen.
Prekäre Verhältnisse
Das Johannahuset in Kopenhagen ist bisher einmalig in Dänemark. In diesem Heim, das sich an deutschen Vorbildern orientiert, finden Kindern und Jugendliche Zuflucht, die sonst kein Dach mehr über dem Kopf haben. In einem geschützten Ambiente können sie übernachten, essen, können sich beraten lassen. So wie Aziz, der von seinem Vater, aber auch seiner Mutter misshandelt wird und sich zu Hause nicht mehr sicher fühlt. Oder Kayla, die wegen familiärer Dauerkonflikte seit einem halben Jahr auf der Straße lebt. Die dänische Regisseurin und Journalistin Mette Korsgaard hat Aziz und Kayla und weitere Heranwachsende in ihrer Langzeitdoku „Bravehearts“ jahrelang bei ihren Aufenthalten in dem Heim begleitet, lässt sie und die Sozialarbeiterinnen ausführlich zu Wort kommen. Noch erschreckender als die Erlebnisberichte der Kinder und Jugendlichen sind die anonymisierten Mitschnitte von Telefonaten mit den zuständigen Betreuer*innen der Sozialämter, die alle möglichen rechtlichen Bedenken äußern, aber nur selten wirklich helfen. Von einem Lichtblick konnte Korsgaard immerhin in Lübeck berichten: Schutzsuchende Minderjährige brauchen nach einer Gesetzesänderung nun keine Einwilligung der Eltern mehr, wenn sie im Johannahuset übernachten wollen.
In prekäre Verhältnisse kommt auch der 19-jährige Pole Robert, der in dem Außenseiterdrama „Norwegian Dream“ (Verleih: Salzgeber) einen Job in einer Fischfabrik nahe Trondheim antritt. Dort muss er sich ein karges Doppelzimmer mit einem ruppigen Landsmann teilen. In Norwegen will Robert viel Geld verdienen, um seiner hochverschuldeten Mutter zu helfen. Doch dann verliebt er sich in Ivar, den schwulen Sohn des Fabrikbesitzers. Aus Furcht vor Diskriminierung will Robert seine sexuelle Orientierung geheim halten. Doch als sich Ivar einem Streik gegen schlechte Arbeitsbedingungen anschließt, steht Robert vor einem Dilemma. Das düstere Sozialdrama des Regisseurs Leiv Igor Devold, der in Warschau geboren wurde und in Oslo aufgewachsen ist, zeigt eindringlich, wie Hass und Vorurteile gegen Homosexuelle Robert von Polen nach Norwegen verfolgen, die seinen Traum vom privaten Glück und einem besseren Leben im Ausland ebenso untergraben wie die chronische Ausbeutung in der norwegischen Fischindustrie. Während die Story in den gängigen Strukturen eines Coming-Out-Dramas verharrt, besticht die ruhige Inszenierung durch starke Darstellerleistungen und große Kinobilder der Fjordlandschaften in grauen Herbstfarben.
Culture Clash und Coming out
In helles Sommerferienlicht getaucht ist dagegen der erste Langspielfilm „Listen up!“ von Kaveh Teherani. Er erzählt von Mahmoud, der mit seinem kleinen Bruder Ali und den pakistanischen Eltern in einem abgetakelten Hochhaus in Oslo wohnt. Für eine Urlaubsreise reicht der karge Lohn des Vaters nicht, der als Taxifahrer arbeitet. Dafür darf Mahmoud seinen Onkel Ji betreuen, der zu Besuch kommt und sich über freizügig gekleidete Norwegerinnen und die sauberen Straßen wundert. Anfangs wirkt „Listen up!“ wie eine spritzige Culture-Clash-Komödie, spielt sie doch clever und humorvoll mit den Stereotypen, mit denen die Menschen unterschiedlicher Herkunft sich kritisch beäugen. Doch dann zieht der Regisseur, der in Teheran geboren wurde und in Oslo lebt, überraschend eine zweite Ebene ein, denn es zeigt sich, dass Ali am liebsten Mädchenkleider anzieht und seine Haare mit einer pinkfarbenen Spange schmückt. Während Ali damit das patriarchalische Weltbild des Onkels und vor allem des konservativen Vaters erschüttert, stellen sich die Mutter und Mahmoud auf die Seite des genderfluiden Jungen, der auf der Suche nach seiner sexuellen Identität ist. Die kurzweilige Adaption eines Comics von Gulraz Sharif sicherte sich in Lübeck den Kinder- und Jugendfilmpreis der Gemeinnützigen Sparkassenstiftung.
Tanzen für Aufmerksamkeit und Selbstbewusstsein
Allzu konventionell und vorhersehbar wirkt auf den ersten Blick auch „Dancing Queen“, ein weiterer Kinderfilm aus Norwegen. Aurora Gossé erzählt in ihrem amüsanten Feelgood-Movie von der zwölfjährigen Mina, die am ersten Tag nach den Ferien in der Schule dem schönen Hip-Hop-Tänzer E. D. Win begegnet. Die verhuschte Brillenträgerin und Mathe-Königin ist so fasziniert von dem Instagram-Star, dass sie sich spontan für einen Tanzwettbewerb meldet, den er organisiert. Weil sie aber gar nicht tanzen kann, nimmt sie Unterricht bei ihrer exzentrischen Großmutter, einer einstigen Profi-Tänzerin, vernachlässigt darüber aber die Freundschaft zum stets hilfsbereiten Nachbarjungen Markus. Auf der Suche nach Respekt und Zugehörigkeit zur angesagten Clique muss Mina viele Rückschläge und Niederlagen einstecken, etwa wenn ihr E. D. Win ins Gesicht sagt, sie solle ein paar Pfunde abnehmen. Doch dank zuverlässiger Helfer*innen wächst sie über sich hinaus und erkennt den wahren Wert von Freundschaft. Die Coming-of-Age-Komödie punktet mit mitreißenden Tanzszenen, schwungvoller Musik, bemerkenswert pointierten Dialogen und einer wandlungsfähigen Hauptdarstellerin: Liv Elvira Kippersund Larsson. Dass Gossé gegen Ende zu oft ins Sentimentale abdriftet, lässt sich verschmerzen. Die Kinderjury in Lübeck war jedenfalls angetan und vergab ihren Preis an die Außenseiter-Komödie.
Dysfunktionale Familien
Während Mina trotz einiger Konflikte auf den Rückhalt ihrer Familie vertrauen kann, steht die 16-jährige Laura in dem sperrigen Sozialdrama „Paradise is burning“ der schwedischen Spielfilmregiedebütantin Mika Gustafson allein auf weiter Flur. Ihre Mutter ist mal wieder weg und sie muss sich um ihre zwölfährige Schwester Mira und die siebenjährige Steffi kümmern. Wenn die flippige Laura nicht mit Freundinnen im Park abhängt, klaut sie Lebensmittel im Supermarkt oder plantscht in fremden Swimmingpools. Doch dann kündigt das Jugendamt einen Kontrollbesuch an, dem Trio droht die Aufteilung auf Pflegefamilien. Eine agile Handkamera begleitet die chaotischen Aktivitäten der Mädchen, offenbart bei allem Zank ihren fürsorglichen Umgang miteinander und macht anschaulich, wie chaotisch es sich anfühlen kann, ins Erwachsenwerden zu wechseln. Die episodische Erzählstruktur, ambivalente Beziehungen zu erwachsenen Kontaktpersonen und die vagen Figurenzeichnungen lassen in dieser impulsiven Milieuskizze jedoch allzu zu viele Fragen offen. In Lübeck errang das Coming-of-Age-Drama aus dem Spielfilmwettbewerb dennoch gleich zwei Preise: den Preis der Jugendjury und den Kirchlichen Filmpreis Interfilm.
Eine dysfunktionale Familie steht auch im Zentrum des pessimistischen lettischen Dramas „Neon Spring“ von Matīss Kaža. Die 20-jährige Studentin Laine leidet darunter, dass ihre Eltern sich getrennt haben, und versucht, ihrem verwirrten jüngeren Bruder Vater und Mutter zu ersetzen, wenn sie sich nicht gerade auf Partys vergnügt und Drogen nimmt. Ihr Selbsterkundungstrip gerät ins Schleudern, als ihre lesbische Freundin Gunda vergewaltigt wird. Die kursorischen Ausflüge Laines in die Rave-Keller Rigas und die wortkargen Familienszenen bleiben jedoch seltsam unterkühlt, so dass sich kaum Empathie mit der desorientierten Protagonistin einstellt, die einer ungewissen Zukunft entgegenstolpert. Bedenklich ist auch die unkritische Darstellung des exzessiven Drogenkonsums.
Fragen nach der eigenen Identität
„Was ist, wenn ich ein Mädchen werde und dann meine Meinung ändere? Dann kann ich kein Junge mehr werden“, sagt der zwölfjährige Bastian in dem dänischen Dokumentarfilm „It's always been me“ von Julie Bezerra Madsen. Bastian steht vor der Frage, ob er sich einer Hormontherapie unterziehen soll, um seine Pubertät zu beenden. Er wurde mit männlichen Geschlechtsorganen geboren, fühlt sich aber mehr wie ein Mädchen. Der gleichaltrige Max wiederum hat sich als transsexueller Junge geoutet. In einem symbolischen Akt verbrennt er im Film einmal seine Barbie-Puppen in einem Lagerfeuer. Die Regisseurin begleitet die beiden in ihrer einfühlsamen Doku in einem entscheidenden Lebensabschnitt voller Ungewissheiten und Selbstzweifel über zwei Jahre hinweg und zeigt dabei, wie Eltern, Geschwister und Freund*innen ihnen dabei helfen, ihr Verhältnis zu ihrem Körper zu definieren und ihren Weg ins Erwachsensein zu finden. Überaus spannend ist dabei mitzuerleben, wie Max und Bastian ihre Ansichten, Verhaltensweisen und Identitäten immer wieder ändern.