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Festivals | | von Holger Twele

Schaffen sie das?

Widerständige Jugendliche im Programm von Generation 14plus bei der "Berlinale" 2020

Probleme zu stemmen und daran zu wachsen, darum ging es teils außergewöhnlich heftig in den Jugendfilmen des 14plus-Programms der diesjährigen Berlinale Generation. Auffallend viele Filme erzählten dabei über junge Frauen oder stammten aus den Händen von Filmemacherinnen.

"La déesse des mouches à feu" (c) Laurent Guérin

Politisch wie selten, spannend, abwechslungsreich und vor allem berührend präsentierten sich die 14 Filme des diesjährigen Wettbewerbs Generation 14plus der Berlinale. Maryanne Redpath, die Leiterin der Sektion, beschrieb das in ihrem Vorwort, es handele sich um „Fahrten auf der Achterbahn der Gefühle“, „Schwimmen gegen den Strom“ oder damit, „dem Gefühlstsunami begegnen, der angesichts von Verlust und Leere aufkommt“. Fast immer sind existenzielle Entscheidungen für das Leben und den eigenen Lebensweg zu treffen. Der psychologische Begriff „Resilienz“ bringt das auf den Punkt: die psychische Widerstandsfähigkeit, Krisen und persönliche Verletzungen zu bewältigen und sie produktiv für die eigene Entwicklung zu nutzen. Eigentlich geht es in allen Coming-of-Age-Filmen auch um Resilienz, in den diesjährigen Filmen von 14plus sogar außergewöhnlich heftig – mit überwiegend weiblichen Personen vor und hinter der Kamera und in einer beeindruckenden Bildsprache jenseits eingefahrener Gleise.

Konfliktfeld Eltern und Familie

Ein sich der Erde nähernder Asteroid wird im brasilianischen Film „Irmã“ (Sisters in the End of the World) von Luciana Mazeto und Vinicius Lopes zum Symbol einer sich auflösenden Welt der Kindheit für Julia und ihre ältere Schwester Ana, die bei der alleinerziehenden Mutter aufwuchsen. Der Vater hat sich nie um seine Töchter gekümmert und ist überrascht, als seine Kinder nach dem Tod der Mutter plötzlich bei ihm aufkreuzen. Wenn sie sich bedingungslos seinen Regeln anpassen, können sie bleiben, doch zumindest Ana will sich darauf nicht einlassen und fordert für sich und ihre kleine Schwester Freiheit und Unabhängigkeit von den Regeln einer patriarchisch strukturierten Gesellschaft. Dokumentarische Szenen wechseln mit traumhaften Bildern einer berauschenden Natur, versteinerte Bäume erinnern an längst vergangene Zeiten. Der Streit zwischen Vater und Tochter Ana erscheint Julia im Traum als Soap Opera im Fernsehen, während die Mädchen ihre Verbundenheit in einer selbstgebauten Höhle aus Betttüchern leben, auf die lustige und bedrohliche Schattenspiele fallen.

"Irmã" (c) Carine Wallauer

Die Abgrenzung von wenig vorbildhaften Vaterfiguren findet im italienischen Film „Palazzo di giustizia“ (Ordinary Justice) von Chiara Bellosi allein im Flur vor einem Gerichtssaal statt. Die schon etwas ältere Domenica wartet dort auf ihren Vater, der sich wegen Mord oder Totschlag eines Einbrechers vor Gericht verantworten muss, während die kleine Luce hofft, der neue Partner der Mutter werde als zweiter Einbrecher bald wieder frei sein und die Familie komplettieren. Zunächst ignorieren sich die beiden Mädchen, hegen Groll aufeinander, kommen sich dann aber langsam näher und solidarisieren sich behutsam.

„La déesse des mouches à feu“ (Goddess of the Fireflies) von Anaïs Barbeau-Lavalette blendet zurück ins Kanada der 1990er-Jahre. Die 16-jährige Cat wird brutal in den Scheidungskrieg ihrer Eltern hineingezogen, während sie erste Erfahrungen mit harten Drogen, Sexualität und Liebe macht und sich von den Zwängen der Erwachsenen zu befreien sucht. Im Zeitkolorit ganz auf die Vergangenheit bezogen, verweist der Film indirekt auf das, was sich in den letzten 30 Jahren bei jugendlicher Rebellion verändert hat und was gleich geblieben ist.

Nicht immer sind es die Väter, die für die nachwachsende Generation zur Belastungsprobe werden. In „Jumbo“ von der belgischen Filmemacherin Zoé Wittock beispielsweise überträgt die Mutter ihre ambivalenten Einstellungen gegenüber Männern auf ihre Tochter Jeanne, die das Werben eines jungen Mannes ignoriert und sich stattdessen in ein mächtiges modernes Fahrgeschäft auf dem Rummelplatz verliebt, sexuelle Erfüllung inbegriffen. Trotz seiner gewöhnungsbedürftigen Beziehungsform strukturell betrachtet ein klassischer Liebesfilm, der typische Probleme des Erwachsenwerdens aufgreift, nur eben aus einer etwas anderen Perspektive.

Vorsicht ist dennoch geboten, solche Filme als Spiegel der Gesellschaft zu interpretieren. Mangelnde Unterstützung und geringes Einfühlungsvermögen der Eltern sind auch eine konstante dramaturgische Komponente, um die Handlung eines Coming-of-Age-Films voranzutreiben und Konflikte auf den Punkt zu bringen.

Akt der Befreiung

Der Befreiungsschlag von den Zwängen der Gesellschaft und der letztlich durch die Familie geprägten Vergangenheit kann ganz unterschiedlich ausfallen. Enigmatisch, parabelhaft und mitunter nur schwer nachvollziehbar geschieht dies in der belgisch-französisch-kanadischen Produktion „Pompei“ von Anna Falguères und John Shank. Wie lonesome cowboys lebt eine Gruppe Jugendlicher irgendwo am Rande des Meeres und finanziert sich durch den illegalen Verkauf antiker Gegenstände aus einer nahegelegenen Ausgrabungsstätte. Erwachsene tauchen in diesem Film so gut wie nicht auf, außer in einer kurzen Einstellung der Vater von Billie, der seine Tochter zur Strafe in diese verlassene Gegend bringt, damit sie wieder zur Vernunft kommt, ihr ansonsten aber alle Freiheiten lässt. Billie mischt das von klaren Machtstrukturen bestimmte Gefüge unter den in der Gemeinschaft zusammengeschweißten Kindern und Jugendlichen auf, was bei Victor zu einem Loyalitätskonflikt in der Gruppe führt und den kleinen Jimmy, der sich Victor zum Vorbild nahm, zu einer dramatischen Entscheidung drängt.

"Paradise Drifters" (c) Jasper Wolf/2019 Pupkin

Ebenfalls der Wohlstandsgesellschaft komplett den Rücken gekehrt haben Yousef, Chloe und Lorenzo in „Paradise Drifters“, dem fulminanten Spielfilmdebüt von Mees Peijnenburg. Obdachlos geworden in ihrer niederländischen Heimat, kreuzen sich eher zufällig ihre Wege. Die drei machen sich auf den Weg nach Südeuropa, um vielleicht dort etwas mehr menschliche Wärme und vor allem innere Freiheit zu finden, wobei auch der Freitod als eine Option erscheint und Chloe im Süden ihr ungeborenes Baby verkaufen möchte. Ein Film mit der Wucht eines Orkans, der aber nicht nur Zerstörung hinterlässt, sondern auch ein vages Zeichen der Hoffnung setzt.

Ganz unmittelbar um Tod und Trauer geht es in dem japanischen Road Movie „Kaze no denwa‟ (Voices in the Wind) von Nobuhiro Suwa. Es folgt der 17-jährigen Haru auf ihrer Reise von Hiroshima über Tokio nach Fukushima zu dem Ort, an dem 2011 der Tsunami ihren kleinen Bruder und die Eltern in den Tod riss. Unterwegs begegnet sie vielen Menschen, die ebenfalls von einem tragischen Verlust gezeichnet sind, die ihr aber helfen und sie unterstützen, bis sie am Ende in einem Telefonhäuschen ohne Anschluss endlich mit jenen sprechen kann, die sie verloren hat und denen sie vielleicht erst nach einem langen Leben wieder begegnen wird. Ein ergreifender Film, in ruhigen Bildern erzählt, der noch ein Stück besser geworden wäre, wenn das, was die Nebenfiguren im Gesicht widerspiegeln, auch im Gesicht der Hauptdarstellerin zum Ausdruck gekommen wäre.

Alte und neue Rollenbilder

Die Me-too-Debatte und das Bemühen der Berlinale um möglichst paritätische Geschlechterbeteiligung schlug sich auch in der Auswahl der Filme nieder, insbesondere bei den drei brasilianischen Beiträgen. Viele hinterfragen überkommene Rollenbilder und rebellieren gegen männliche Machtstrukturen auf der Suche nach ihrer weiblichen Identität, die sexuelle eingeschlossen, etwa in Bezug auf Transgender und Homosexualität. Im turbulenten und vor Lebenslust strotzenden „Alice Júnior“ von Gil Baroni Brasilien etwa zieht die erfolgreiche YouTuberin Alice von der Großstadt in einen sehr konservativ-katholisch geprägten Ort und muss sich dort als transidente Teenagerin gegen Vorurteile und Prüderie behaupten. Und im deutschen Eröffnungsfilm der Reihe, in „Kokon“ von Leonie Krippendorf, beobachtet und erduldet die 14-jährige Nora zunächst stillschweigend das Treiben der Geschlechter im Mikrokosmos von Berlin-Kreuzberg, bis sie die selbstbewusste ältere Romy kennenlernt und die Welt um sich herum plötzlich mit ganz anderen Augen sieht.

"Alice Júnior" (c) Renato Ogata & Gil Baroni

Besonders beeindruckend „Meu nome é Bagdá (My Name is Baghdad) von Caru Alves de Souza, der dann den Großen Preis der Internationalen Jury, gestiftet von der Bundeszentrale für politische Bildung, erhielt. In der Skaterszene von São Paulo ist die selbstbewusste Baghdad, die sich burschikos, cool und unnahbar gibt, eine der wenigen Frauen, die sich gegenüber der männlichen Übermacht zu behaupten wissen. Aufgewachsen in einem emanzipierten Frauenhaushalt, weiß sie, wie sie sich gegenüber den Männern zur Wehr setzen kann, welche sich immer noch als Krone der Schöpfung betrachten. Das schützt sie allerdings nicht vor alkoholisierten Dumpfbacken, blöden Anmachsprüchen und einer entwürdigenden Kontrolle durch männliche Polizisten. Selbst auf vermeintliche Freunde ist kein Verlass, sobald sie alkoholisiert sexuell übergriffig werden. Der Film, der aus vielen Schlaglichtern und Momentaufnahmen einer pulsierenden Großstadt und einer selbstbewussten weiblichen Wohngemeinschaft besteht und seine Geschichte vor allem in Bildern erzählt, besticht nicht zuletzt durch sein Ende, in dem die Frauen zur offenen verbalen Auseinandersetzung greifen und ihr Recht einfordern, gehört und respektiert zu werden.

Gesellschaftspolitischer Hintergrund

Lässt sich bei den Rollenbildern das Private ohnehin nicht mehr vom Politischen trennen, verweisen einige Wettbewerbsbeiträge ganz unmittelbar auf gesellschaftliche Hintergründe. Der ukrainisch-lettische Film „The Earth is Blue as an Orange“ von Iryna Tsilyk wählt die dokumentarische Form für ein Familienporträt aus der vom Bürgerkrieg geschüttelten Region Donbas. Dort lebt Myroslava, die Kamera studieren möchte und im Unterschied zu vielen anderen Filmen der Reihe ungeteilte Unterstützung seitens ihrer Eltern und insbesondere der Mutter erfährt. Iryna Tsilyk beobachtet mit der Kamera, wie die Familie im Krieg zu überleben versucht, zugleich dokumentiert sie die Dreharbeiten der angehenden Filmstudentin, die in ihrem eigenen Film den Krieg und seine Auswirkungen auf die Bevölkerung reflektiert.

Ebenfalls dokumentarisch ist „White Riot“ von Rubika Shah, die den Widerstand zahlreicher britischer Bands gegen eine neofaschistische Partei und die Zunahme rassistischer Gewalt im Jahr 1978 in Erinnerung ruft. Eine mit vielen Originalaufnahmen, Zeitzeug*inneninterviews und guter Musik übersichtlich zusammengestellte Dokumentation, bei der sich zahlreiche Parallelen zur Gegenwart gerade aufdrängen.

Elf Jahre vor dem Genozid in Ruanda 1984 spielt der Film „Notre-Dame du Nil“ von Atiq Rahimi, die Adaption eines Romans aus dem Jahr 1973 über das Leben in einem katholischen Mädcheninternat, in dem wohlhabende Hutu- und Tutsi-Mädchen zur künftigen Elite des Landes herangebildet werden. Kolonialistisch geprägte Strukturen und persönlicher Egoismus führen bei den Mädchen zum Verlust ihrer Unschuld und nehmen in ihrer zerstörerischen Struktur den Genozid vorweg. Die Aufmerksamkeit des von der Jugendfilmjury mit dem Gläsernen Bären ausgezeichneten Films verteilt sich gleichmäßig auf mehrere miteinander befreundete Schülerinnen, wobei eine von ihnen die Flucht aus dem Land als einzige verbleibende Überlebensperspektive sieht.

"White Riot" (c) Syd Shelton

„Yalda, la nuit du pardon“ (Yalda, die Nacht der Vergebung) von Massoud Bakhshi, eine internationale Koproduktion aus fünf Ländern mit dem Iran hätte auch gut in den Wettbewerb der Berlinale um den Goldenen Bären gepasst, wenn er nicht zuvor den Großen Preis der Jury beim Sundance-Filmfestival erhalten hätte. In einer Reality-TV-Show soll eine wegen Mordes zum Tode verurteilte junge Frau die Tochter des Ermordeten um Vergebung bitten, um am Leben bleiben zu können. Nicht ohne Widerstand war sie mit dem reichen und um viele Jahre älteren Opfer eine Ehe auf Zeit eingegangen, die dann völlig aus dem Ruder lief. Auch eine Kritik am Showbusiness, das überall auf der Welt nach ähnlichem Muster abläuft, viel mehr jedoch an der iranischen Gesellschaft mit ihrer Todesstrafe und Abhängigkeitsstrukturen, durch die Frauen zwar Täterinnen und Mitläuferinnen werden können, aber gegenüber den Männern immer auf der Verliererseite bleiben.

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