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Festivals | | von Reinhard Kleber

Raus aus der Konsumhaltung

Partizpation beim Internationalen Festival für junge Filmfans „Lucas‟

Meistens sind die Rollen klar verteilt: Ein Kinder- und Jugend-Filmfestival stellt ein Filmprogramm zusammen, das junge Publikum kommt und sieht sich die Filme an. Vor sechs Jahren hat man beim „Lucas – Internationales Festival für junge Filmfans‟ begonnen, seinem Publikum einen größeren Gestaltungsspielraum zu bieten und es zum Mitgestalten eingeladen. Was ist mittlerweile daraus geworden – auch in Zeiten von Corona? Eine Zwischenbilanz.

"The Last Picture Show" Quelle: DFF

2016 leitete das „Lucas‟-Filmfestival in Frankfurt am Main eine grundlegende Reform ein: Es gab sich nicht nur einen neuen Namen und erweiterte die Zielgruppe um Jugendliche und junge Erwachsene, es forcierte auch die Beteiligung der jungen Besucher*innen an der Programmgestaltung. Sechs Jahre später ist es Zeit für eine Zwischenbilanz. Eine Schlüsselrolle spielt dabei das Format der „Young European Cinephiles‟, das sich an die „schwierige“ Zielgruppe der älteren Jugendlichen wendet.

Neuer Name, neues Konzept

Seit 2016 heißt das 1975 gegründete und damit älteste deutsche Kinderfilmfestival „Lucas – Internationales Festival für junge Filmfans‟. Der Name ist Programm und signalisiert, dass die Filmschau, die das DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum organisiert, nicht nur Kinder, sondern auch Jugendliche bis hin zu jungen Erwachsenen anspricht. Der Name steht aber auch für einen mutigen Denkansatz: Kinder und Jugendliche in das Festivalgeschehen immer wieder und auf mehreren Ebenen aktiv einzubinden, statt ihnen nur Filme zu zeigen. Unter dem Motto „Mitmischen!‟ können Kinder und Jugendliche vor, während und nach „Lucas‟ viele Möglichkeiten nutzen, beim Programm ein Wörtchen mitzureden, etwa als Moderator*innen, Filmkritiker*innen, Programmmacher*innen, Filmpat*innen oder Juror*innen. In Online-Filmgesprächen befragen junge Filmfans internationale Filmschaffende zu ihren Filmen. Die Interviews werden im eigens eingerichteten „Lucas‟-Studio aufgezeichnet und auf der „Lucas‟-Webseite ausgestrahlt.

Filmeschauen ist erst der Anfang

Eine zentrale Rolle bei der Programmgestaltung spielen die Nachwuchskurator*innen: So gestalten Heranwachsende in den Reihen „Young European Cinephiles‟ und „Klassiker.Klasse‟ eigene Filmprogramme. Bei der diesjährigen 44. Festivalausgabe präsentierte ein Religionskurs aus der 12. Stufe der Albert-Einstein-Schule Schwalbach als „Klassiker.Klasse‟ drei amerikanische Meilensteine des Katastrophenfilms: „Airplane!‟ (1980), „Ice Age: The Meltdown‟ (2006) und „The Day After Tomorrow‟ (2004). Das Ganze passend zur aktuellen Sonderausstellung „Katastrophe. Was kommt nach dem Ende?‟ im DFF. Der 2015 gegründete interkulturelle Filmclub „Blickwechsel Jetzt‟ des DFF ermöglicht Begegnungen zwischen geflüchteten und Frankfurter Jugendlichen im Alter von 14 bis 20 Jahren. Gemeinsam sehen sie Filmklassiker vom Stummfilm bis zum aktuellen Action-Film und tauschen sich darüber aus. Nach einer Corona-Zwangspause stellte die Gruppe nun bei „Lucas‟ ein Schlüsselwerk von New Hollywood vor: „The Last Picture Show‟ (1971) von Peter Bogdanovich.

Warum Partizipation für das Festival so wichtig ist, erklärt dessen Leiterin Julia Fleißig: „Bei Lucas ist das Filmeschauen erst der Anfang. Uns ist es besonders wichtig, möglichst vielen Kindern und Jugendlichen Teilhabe an Filmkultur zu ermöglichen.‟ Dem Team liege am Herzen, dass die Besucher*innen „die spannenden Festivalfilme nicht nur schauen, sondern sich intensiv damit auseinandersetzen und etwas mitnehmen.‟ Kinder müssten in die Gestaltung kultureller Bereiche einbezogen werden, Erwachsene hätten das lange genug für sie gemacht, so Fleißig. Vor diesem Hintergrund sei es für sie undenkbar, ein traditionsreiches Festival ohne partizipative Strukturen fortzuführen.

"Airplane!" Quelle: DFF

Partizipation braucht Vertrauen – und eine zeitintensive Vorbereitung

Doch welche Erfahrungswerte hat man in Frankfurt mit der Einbindung von Heranwachsenden gewonnen? „Lucas‟ ist durch ein großes Vertrauen in die Sichtweisen und in die Neugier junger Menschen geprägt‟, so Fleißig. „Wir haben hervorragende Erfahrungen gesammelt, Entscheidungen in die Hände von Kindern und Jugendlichen zu geben.‟ Schließlich vergeben bereits seit 1985 paritätisch mit jungen und erwachsenen Mitgliedern besetzte Jurys Preise – aktuell in den Wettbewerben der Altersgruppen 8+ und 13+.

Insgesamt zieht die Festivalleitung eine positive Zwischenbilanz zur Umsetzung des Konzepts, das auf eine fortlaufende Weiterentwicklung angelegt ist. „’Mitmischen!’ zieht sich bei uns im Grunde durch das gesamte Programm. Da greift alles ineinander, auch wenn wir dafür sehr viel Zeit investieren müssen. Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder neue Projekte initiiert, bei denen junge Menschen mitwirken können. Die Stadtteiljury ist dieses Jahr so ein neues ’Mitmischen!’-Projekt.‟ Zehn Frankfurter Schüler*innen zwischen neun und 14 Jahren haben sich dafür in einem einwöchigen Workshop im Medien-Studio Bornheim auf die Juryarbeit vorbereitet und küren in der Festivalwoche einen Preisträgerfilm aus dem Kurzfilmwettbewerb.

Partizipation unter Pandemiebedingungen

Gab es seit 2016 auch mal Rückschläge oder gescheiterte Programmformate? Fleißig verweist darauf, dass die meisten Projekte abhängig von Förderungen sind, die jedes Jahr neu beantragt werden. „Es kann vorkommen, dass man Projekte etwas verändern muss, um andere Finanzierungspartner*innen zu finden.‟ Unter dem Strich, so Fleißig, gebe es kein Projekt, „das wir nicht weitergemacht hätten, weil es überhaupt nicht funktioniert hat‟.

Filmvermittler Wilke Bitter ergänzt, dass „Lucas‟ in immer neue Bereiche seine Fühler ausstrecke. „Natürlich gibt es da immer wieder Bewegung. Gerade im letzten Jahr konnten wir vieles nicht umsetzen, zum Teil wegen der Corona-Pandemie, zum Teil aus anderen Gründen. So zum Beispiel das coole Projekt ’Lucas goes’, bei dem Kinder und Jugendliche aus einem Jugendzentrum im Frankfurter Stadtteil Ginnheim ihren eigenen Open-Air-Kinoabend mit früheren ’Lucas’-Kurzfilmen kuratieren konnten.‟ Mit dem Projekt versuchen die Festivalmacher*innen, Kontakte zu Kids aus Vierteln mit weniger dichtem Kulturangebot aufzubauen und ihnen die Mittel bereitzustellen, um Filmkultur an ihre Orte zu bringen.

Die Corona-Pandemie sei schon „ein Riesendämpfer‟ gewesen, betont Bitter. „Da mussten wir ausgiebig prüfen, wie wir bei den ’Mitmischen!’-Formaten vorgehen können. Wir haben im vergangenen Jahr viel umgestellt und die ’Filmpaten’ und das ’Kritikfenster’ fast komplett ins Netz verlegt. Das sei aber nicht Sinn der Sache. „Wir bieten diese Angebote, damit die Leute zusammenkommen und sich persönlich austauschen.‟

Ein konzeptueller Ansatz mit Reichweite

Die konsequente Konzeption hat inzwischen viele andere Festivals neugierig gemacht. „Wir werden immer wieder europaweit zu Treffen eingeladen, um unseren Ansatz zu erläutern und Erfahrungen auszutauschen‟, berichtet Fleißig. „Auf besonderes Interesse stößt, dass wir so viel mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten. Für klassische Kinderfilmfestivals wäre das eine erhebliche Erweiterung der Zielgruppe.‟ Die anderen Festivals wollten vor allem wissen: „Wie setzen wir das Konzept um? Wie kommen wir an die jungen Menschen heran?‟

Die „Lucas‟-Leiterin legt aber auch Wert auf die Feststellung, dass nicht das ganze Festival aus Partizipation besteht. „Die Mischung macht es spannend. Die Langfilme für die Wettbewerbsprogramme werden von einer Auswahlkommission gescoutet und kuratiert, die Kurzfilme werden eingereicht und ebenfalls von einer professionell besetzen Auswahlkommission ausgewählt. Beim Kurzfilmwettbewerb besteht ’Lucas’ auf Deutschlandpremieren. Das ist im Grunde klassische Festivalarbeit. Doch die ganze Arbeit rund um den Film, das, was wir mit den Wettbewerbsfilmen machen, ist durchweg partizipativ.‟

"Fitzcarraldo" Quelle: DFF

Jugendliche aus Europa werden zu Kurator*innen

Zu den ältesten „Mitmischen!‟-Formaten zählt die Programmreihe „Young European Cinephiles‟ (YEC), die von europäischen Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren gestaltet wird. In diesem Jahr taten sich je zwei filmaffine Jugendliche aus Belgien, Deutschland und Griechenland zusammen, diskutierten seit dem Frühjahr eifrig in Online-Workshops und legten dabei das Thema Obsession fest. Damit wollten die jungen Cinephilen „Detailverliebtes, Fokussiertes, aber auch Zwanghaftes und Wahnhaftes im Film zeigen und zusammen mit dem Kinopublikum erleben und diskutieren‟, wie das Festival mitteilte. Die 18-jährige Belgierin Ivana Noa unterscheidet dabei zwischen „gesunden, kreativen‟ Obsessionen, die zu radikalem, innovativen Denken und Handeln jenseits von Normen befähigen, und „ungesunden‟ Obsessionen. Das Sextett einigte sich schließlich darauf, drei Filme vorzustellen: „Whiplash‟ (2014), „Fitzcarraldo‟ (1982) und „Black Swan‟ (2010).

Mit Werner Herzogs Klassiker „Fitzcarraldo‟ hatte sich die YEC-Gruppe allerdings ein Mammutwerk ausgesucht. Nach der Vorführung ging zwar niemand aus dem DFF-Kino, es zeigte sich aber, dass es nach einem 158-Minuten-Brocken ganz schön schwierig sein kann, eine Diskussion über das Gesehene in Gang zu bringen. Die Festivalmacher*innen kennen das Problem der Überlänge, ließen den jungen Kurator*innen aber dennoch freie Hand. „Wir möchten da nicht eingreifen, sondern versuchen, die Auswahl der Cinephiles irgendwie möglich zu machen‟, so Julia Fleißig. Im Übrigen zeige die Erfahrung, dass auch bei überlangen Titeln eine spannende Debatte entstehen könne.

Filmbegeisterte aus ganz Europa

Um die europäische Perspektive zu erweitern, hat „Lucas‟ in diesem Jahr die YEC-Gruppe erweitert, wie Fleißig erläutert. „Bisher kamen zwei Jugendliche aus Deutschland und zwei aus einem anderen europäischen Land, in den vergangenen Jahren waren das beispielsweise Slowenien und Luxemburg. Dieses Mal haben wir ein weiteres europäisches Land hinzugenommen. Das bringt nochmal eine Bereicherung im Austausch.‟ 2020 gab es statt der Filmreihe YEC coronabedingt eine paneuropäische Challenge, so Fleißig.

Üblicherweise bringen die YEC-Mitglieder bereits Erfahrungen mit Film, Kino oder Theater mit. In diesem Jahr waren Eirini-Aikaterini Zeza und Sofia Agalioti schon öfter auf dem Olympia Filmfestival for Children and Young People in ihrer griechischen Heimatstadt Pyrgos. „Wir waren schon mal in einer Jury, haben an Workshops teilgenommen und machen manchmal auch selbst Filme. Ich habe außerdem als Journalistin über das Festival berichtet‟, sagt Eirini-Aikaterini. Ihre Kollegin ergänzt: „Ich habe auch schon versucht, Kurzfilme zu machen und schreibe Artikel über neue Kinofilme. Ich war auch schon einmal zu Gast in Cannes.‟ Den Kontakt zu „Lucas‟ knüpften beide über das Olympia Filmfestival, das mit vielen anderen Kinder- und Jugendfilmfestivals in Europa kooperiert, darunter auch mit dem in Frankfurt, wie beide erzählen. Sie betonen auch einmütig: „Wir sind glücklich, hier zu sein.‟

Auch Franka Dittrich aus dem hessischen Karben hatte zuvor schon mit Film zu tun: „Als ich noch klein war, wurde bei mir im Haus ein Film gedreht. Es war spannend zu sehen, dass so viele Leute daran mitarbeiten und wie lange es dauert, bis ein Film fertig ist. Ich habe dann ein Praktikum bei den Schulkinowochen gemacht, die haben mich auf ’Lucas’ hingewiesen, wo ich vor zwei Jahren in der Jury war.‟ Ihr Kollege Paul Riedel aus Aschaffenburg sagt: „Ich bin ein bisschen mit Film aufgewachsen. Mein Vater ist ein Filmfan, mit ihm habe ich die ersten Science-Fiction-Filme geschaut. Durch ihn bin ich zu ’Lucas’ gekommen und habe vor vier Jahren in der Jury mitgemacht. Und vor zwei Jahren war ich mit dem ’Lucas’-Team auf einem Jugendfilmfestival in Brüssel.‟ Während Paul trotz seiner Filmbegeisterung später eher einen medizinischen Beruf ergreifen möchte, will Franka „auf jeden Fall etwas mit Film zu tun haben‟. „Ich bin mir aber noch nicht sicher, in welche Richtung ich gehen will. Ich habe aber auch noch Zeit zu überlegen‟, sagt die 17-Jährige.

Die cineastische Ausformung eines Themas

Doch wie kam die Gruppe eigentlich auf das Thema Obsession? Paul sagt dazu: „Da hatten wir komplette Freiheit und wurden ein bisschen ins kalte Wasser geworfen. Im Endeffekt war das aber gut, weil wir dadurch sehr viel Kreativität entwickeln konnten.‟ Sofia ergänzt: „Wir haben per Brainstorming einige Ideen zusammengetragen, darüber ausführlich online diskutiert und die interessantesten Themen ausgewählt. Am Ende haben wir uns dann auf Obsession geeinigt.‟

Bitter, der die YEC-Mitglieder bei der Arbeit begleitet hat, hat dabei eine interessante Beobachtung gemacht. „Bei der Diskussion über Filmtitel und Themen hat sich herauskristallisiert, dass die sechs gerne Filme zeigen wollten, die auch symbolisieren, was sie in der Corona-Zeit durchgemacht haben. Man hat ein Hobby und vertieft sich stark darin, weil es auf einmal viel weniger Reize von außen gibt. Das funktioniert fast wie im Film, wo man im Dunklen sitzt. Und so wird man automatisch reingezogen in diese Welt.‟

Fleißig hält Obsession für ein „super Thema‟: „Solange es ein Thema ist, das einen Bezug zum Cineastischen hat, finde ich es okay.‟ Und sie merkt an, dass das Festival die Entscheidung über das Thema erstmals den sechs Jugendlichen anvertraut habe. „Vorher war es uns in erster Linie wichtig, dass es ein filmisches Thema ist.‟

Gestartet waren die YECs ursprünglich als größeres Format. Im Premierenjahr zeigten zehn junge Kurator*innen aus fünf Ländern drei Doubles Features an drei Abenden. Doch diese Konstellation bewährte sich nicht. „Das Programmformat Double Features scheint nicht mehr zeitgemäß‟, meint Fleißig. „An der Kinokasse trifft man kaum noch Menschen, die zwei Filme nacheinander schauen.‟ Dagegen liegt den Veranstalter*innen bis heute am Herzen, dass die YEC-Mitglieder sich ausführlich mit den Filmen befassen und ausgiebig diskutieren, wie sie sie dem Publikum präsentieren. Dafür darf die Gruppe aber nicht zu groß sein. „Wir halten wenig davon, 30 Jugendliche einzuladen. Wir bevorzugen überschaubare Gruppen, mit denen man intensiv arbeiten kann.‟

Wenn Franka übrigens die Möglichkeit hätte, nochmal bei den YECs mitzumachen, würde sie das auf jeden Fall tun. „Es hat so viel Spaß gemacht. Es war eine tolle Erfahrung, so oft in der Woche ins Kino gehen zu können. Und das gratis, da kann man sich nicht beschweren.‟

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