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Festivals | | von Holger Twele

Ohne Außenseiter*innen geht es nicht, oder?

Kinderfilmfest München 2018

100% Coco (c) Universum

Häufig reicht schon der Umzug mit den Eltern, um in der neuen Klasse zu Außenseiter*innen zu werden. Flüchtlingskindern, die zudem traumatisiert sein können, geht es da nicht viel anders. Doch allein schon die Pubertät mit ihren vielen neuen Gefühls- und Körpererfahrungen ist keineswegs dazu angetan, sich als vollkommen „normal“ zu erleben. Auch Krankheiten wie Asthma oder ADHS tragen dazu bei, sich ausgeschlossen und ausgegrenzt zu fühlen. Es reicht oft schon, wenn ein anderes Familienmitglied davon betroffen ist. Nicht zuletzt produziert die gesellschaftliche Entwicklung mit der weit auseinander klaffenden Schere zwischen Arm und Reich neue Außenseiter*innen.

Von wegen „Verlierer*innen“

Außenseiter*innen befinden sich – zumindest und zum Glück nicht im Film – dennoch keineswegs auf Seite der Verlierer*innen. Auch ihre Andersartigkeit und die Regelverletzung der von den „anderen“ festgelegten „Norm“, die sie zu Außenseiter*innen macht, sind so vielfältig wie das Leben selbst. Im Kinderfilm sind das durchweg positiv besetzte Identifikationsfiguren, die um Toleranz und Verständnis werben, gegen Vorurteile ankämpfen, Brücken schlagen, auch zwischen verschiedenen Kulturen. Nicht zuletzt steht in den zahlreichen sportlichen und künstlerischen Wettbewerben und natürlich in fast allen Pferdefilmen Außenseiter*innen im Fokus, die „das Rennen machen“. Bei näherer Betrachtung scheint es, als würde der deutsche und internationale Kinder- und Jugendfilm ohne Außenseiter*innen gar nicht (mehr) auskommen.

Die Palette reicht von „Amelie rennt“ (Tobias Wiemann, 2017) und „Auf Augenhöhe“ (Joachim Dollhopf, Evi Goldbrunner, 2016) über „Mein Leben als Zucchini“ (Claude Barras, 2016) und „Kopfüber“ (Bernd Sahling, 2012) bis hin zu „Zugvögel“ (Olivier Ringer, 2015), um nur einige wenige Titel neueren Datums zu nennen. Bei den Literaturverfilmungen geben vor allem die Romane von Andreas Steinhöfel mit dem tiefbegabten Rico und dem hochbegabten Oskar eine Steilvorlage ab. Nicht nur bei den eingereichten Originalstoffen zur Initiative „Der besondere Kinderfilm“ scheint allerdings das Missverständnis zu herrschen, dass die Hauptfiguren der Geschichten selbstverständlich aus möglichst problematischen Familienverhältnissen stammen müssen oder zumindest stark unter dem Fehlen eines Elternteils zu leiden haben.

Ein wenig anders, einsam oder auf sich allein gestellt

Wie sehr sich das Motiv der Außenseiter*innen durch die gesamte Filmgeschichte zieht und zurzeit im Kinder- und Jugendfilm besonders populär ist, lässt sich exemplarisch an den Filmen des Kinderfilmfests München aufzeigen, die gewiss nicht speziell auf Außenseiterfilme fokussiert waren. Und doch standen Außenseiterfiguren im Mittelpunkt aller Geschichten, unabhängig davon, welches Genre sie bedienten und ob es sich um einen Real- oder Animationsfilm handelte.

Besonders klar war das bei „Abenteuer Rom“ von Sandra Vannucchi zu erkennen. In diesem auch für den European Young Audience Award nominierten Road Movie steigt eine Elfjährige, die von ihrer psychisch kranken Mutter und dem überforderten Vater nicht genügend Aufmerksamkeit bekommt, in den Zug nach Rom und lernt auf der Reise ein Roma-Mädchen aus einem Roma-Camp kennen und damit eine ihr bisher unbekannte Welt voller Abenteuer und Begegnungen. Im dänischen Film „Ich bin William“ von Jonas Elmer zieht ein verschlossener Waisenjunge nach dem Tod seiner Mutter zum selbstverliebten kleinkriminellen Onkel, der niemanden außer sich selbst gelten lässt, rettet ihn vor den Übergriffen eines Gangsters und lernt dabei, sich gegen die Schikanen der neuen Mitschüler zu schützen und die Zuneigung einer Mitschülerin zu gewinnen. Ebenfalls aus Dänemark stammt die spritzige Komödie „Kidbusters“ von Frederic Meldal Nørgaard, in dem eine ganze Familie ins soziale Abseits rutscht und der Onkel auf die „rettende“ Idee kommt, einen Jungen aus reichem Elternhaus zu entführen – wie sich dann herausstellt, einem völlig vereinsamten Kind. „Dorfband“ von der Regisseurin Rima Das erzählt von einem Mädchen in einem abgelegenen indischen Dorf, das nur mit Jungen spielen möchte und davon träumt, mit ihnen eine eigene Band zu gründen. Im belgischen Film „Rosie & Moussa“ freundet sich ein ins Wohnsilo neu hinzugezogenes Mädchen mit einem arabischstämmigen Jungen an, der ihr hilft den im Gefängnis einsitzenden Vater zu finden.

Den Publikumspreis gewann dann der niederländische Film „100% Coco“ von Tessa Schram, die Geschichte der 13-jährigen Coco, die einen eigenen ausgefallenen Modestil entwickelt hat. In ihrer neuen Schule kommt sie damit jedoch nicht gut an. Während sie sich nach außen hin anpasst, stellt sie im Internet im Rahmen eines Modewettbewerbs ihre Kollektionen vor und versteckt ihre wahre Identität hinter einer Tigermaske. Als „Style Tiger“ wird sie berühmt, doch eine fiese Mitschülerin versucht mit allen Mitteln, ihr den Erfolg streitig zu machen. Und selbst in den Animationsfilmen sind es Außenseiterfiguren ohne festen Platz im Leben, die plötzlich zu Ruhm und Anerkennung finden, wie das Waisenmädchen Mary in „Mary und die Blume der Hexen“ von Hiromasa Yonebayashi, das durch magische Zauberkräfte eine ganze Magierschule auf den Kopf stellt, oder die mutterseelenallein im Wald lebende Maus Paddy in „Gordon & Paddy“ von Linda Hambäck, die im alten Froschinspektor Gordon einen Gönner und Freund findet und die Maus zu seiner Nachfolgerin bestimmt.

Über die Abgrenzung zur Identität

Doch warum ist dieses Motiv beziehungsweise diese dramaturgische Grundkonstellation so beliebt? Zum einen liegt das an den gängigen Themen des Kinder- und Jugendfilms und der jungen Zielgruppe selbst. Die Suche nach der eigenen Identität und die Schwierigkeiten des Erwachsenenwerdens laufen eben selten ohne Konflikte und Reibungspunkte ab, die in der Abgrenzung und Auseinandersetzung mit anderen ihre Inhalte und Formen finden. Zugleich ist es ein elementares Bedürfnis des Menschen, nicht allein zu sein, zu einer Gruppe, einer Familie, einer Gang, einem eingeschworenen Freundeskreis, einer gesellschaftlichen Gruppe dazuzugehören – und das geschieht nicht immer automatisch, sondern erfordert häufig einen Kraftakt. Schließlich ist unsere westliche Kultur von einer jahrtausendealten Tradition geprägt, worauf der Drehbuchautor Stephan Falk hingewiesen hat. Diese Tradition greift auf das klassische Drama beziehungsweise den Dreiakter zurück, der aus einer Exposition, der Konfrontation und der Aufklärung besteht. Eine solche Dramaturgie bietet sich förmlich an, wenn bei jungen Menschen das bisherige Wertesystem ins Wanken gerät, sie zu „Außenseiter*innen“ werden und diese als Mangel erlebte Situation zum Schluss auflösen möchten.

Diese Dramaturgie greift nicht erst mit der Pubertät. Der erste Schreck der Selbsterkenntnis kann viel früher passieren, etwa in „Alfie, der kleine Werwolf“ von Joram Lürsen. In diesem ist es ein Sechsjähriger, der bei Vollmond grauenhafte Veränderungen an sich entdeckt und nun befürchtet, von seiner geliebten Familie verstoßen zu werden. Das dramaturgische Spiel mit Außenseiterfiguren wird ständig um neue Facetten erweitert, wofür man in den Niederlanden offenbar ein besonderes Gespür hat. In „Trommelbauch“ von Arne Toonen beispielsweise muss sich eine ganze Familie, die sich in ihrer Dickleibigkeit und dem guten fetten Essen bislang sehr wohlgefühlt hat, plötzlich in einem fremden Ort behaupten, in dem alle Bewohner*innen regelmäßig Sport treiben und auf Diät sind. Und in „Hilfe, unser Lehrer ist ein Frosch“ von Anna van der Heide sind es die Kinder, die zusammenhalten, um ihren gelegentlich zum Frosch mutierenden Lehrer vor dem bösen Storch zu beschützen.

Alfie, der kleine Werwolf (c) Barnsteiner

Wenn Außenseiter*innen sich der Norm nicht anpassen müssen

So bleibt am Ende nur noch die Frage, ob im Kinder- und Jugendfilmbereich jenseits der klassischen Dramaturgie noch andere Erzählformen und Geschichten denkbar und vielleicht sogar notwendig sind. Diese stellt sich zunehmend auch angesichts der vielen Menschen mit unmittelbarem Migrationshintergrund, die nicht im Dornröschenschlaf permanenter Integration verharren möchten, sondern auch ankommen und voll dazugehören möchten. Mehr Filme aus den Herkunftsländern wären sinnvoll, wobei hier die fehlende Synchronfassung oft zum unüberwindbaren Hindernis wird.

Es gibt aber auch bereits Filme, die ihre Geschichten anders erzählen wollen oder die gar nicht erst versuchen, ihre Außenseiterfiguren der „Norm“ anzupassen. Im niederländischen Film „Frösche und Kröten“ von Simone Van Dusseldorp streift ein Junge zusammen mit einer dunkelhäutigen Nachbarin auf der Suche nach Froschlaich für seinen kranken Bruder einfach durch die Natur und hat zahlreiche Erlebnisse. Und der mehrfach preisgekrönte Film „Blanka“ des japanischen Regisseurs Kohki Hasei handelt von der Freundschaft zwischen einem elfjährigen Straßenmädchen und einem blinden Musiker in der philippinischen Hauptstadt Manila. Blanka entscheidet sich am Ende bewusst gegen ein Waisenhaus und für das weitere Leben auf der Straße, also gegen die Wiederherstellung der „Norm“.

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