Festivals | | von Barbara Felsmann
Mutig und konsequent
doxs! 2018
Das Dokumentarfilmfestival doxs!, das alljährlich im Rahmen der Duisburger Filmwoche stattfindet, ist berühmt für sein anspruchsvolles Programm sowie für den Mut der Wettbewerbsbeiträge, auch schwierige, unter den Nägeln brennende Themen für das junge Publikum aufzugreifen und realistisch soziale Verhältnisse zu zeigen, in denen Kinder und Jugendliche heutzutage aufwachsen.
Mit Tieren leben – Tiere töten
Tod und Sterben, häusliche Gewalt, Mobbing oder der Umgang mit Behinderungen sind Themen, vor denen Filme bei doxs! nicht Halt machen. In diesem Jahr waren im Programm insgesamt 29 zeitgenössische Dokumentarfilme aus Deutschland und anderen europäischen Staaten zu sehen. Davon setzten sich mehrere Wettbewerbsbeiträge mit den Schwierigkeiten junger Geflüchteter, in ihrer neuen Heimat anzukommen, auseinander und dokumentierten andererseits die Lebenswelten von Kindern in anderen Ländern. So porträtiert der dänische Wettbewerbsbeitrag „Horse Fever“ („Daniar im Pferdefieber“, 2017) den zwölfjährigen kirgisischen Jungen Daniar. Sein wildes Pferd Orlik lässt sich nicht zähmen, auch nicht, nachdem es den Sommer auf der Weide verbracht hat. Als Orlik Daniars Bruder schwer verletzt, muss der Hengst zum Schutz der Menschen getötet werden. Filmemacher Jens Pedersen zeigt mit Anteilnahme, aber ungeschminkt das harte Leben einer kirgisischen Familie in der Natur und scheut sich nicht davor, auch von den strikten, jedoch notwendigen Regeln zu erzählen.
Der Tod von Tieren, herbeigeführt von Menschen, oder gar das Schlachten von Haustieren ist im deutschen Kinderfilm ein Tabuthema. Dabei beschäftigen Fleischkonsum und das dafür notwendige Töten von Tieren sowie die Massentierhaltung in der Landwirtschaft die junge Zielgruppe sehr. Im Februar wurde bereits in der Berlinale-Sektion Generation der belgisch-niederländische Dokumentarfilm „Ceres“ präsentiert, der den Alltag von vier Bauernkindern beschreibt und auch das notwendige Schlachten von Nutztieren thematisiert. Bei doxs! wurde diese Problematik von der niederländischen Regisseurin Marijn Frank in ihrem Film „Slagershart“ („Des Schlachters Herz“, 2017) aufgegriffen. Einfühlsam porträtiert sie den 13-jährigen Wessel, Sohn einer Fleischerfamilie in mehreren Generationen. Wessel erzählt von seinen Konflikten, von den Vorurteilen seiner Mitschüler*innen, von dem Wunsch, die Fleischerei weiterzuführen, und vom Ethos dieses Berufstands, der mit Massenschlachtungen in riesigen Schlachtbetrieben nichts gemein hat. Für Kinder ab zwölf Jahren empfohlen, gibt dieser Dokumentarfilm Einblick in eine Tabuzone, der gerade das junge Publikum entweder mit großen Vorurteilen begegnet oder mit völliger Ignoranz. In Duisburg setzte Marijn Franks Film heiße Diskussionen und intensives Nachdenken in Gang.
Traurigkeit und Verzweiflung nicht verschweigen
Ähnlich tabuisiert im deutschen Kinderfilm ist das Thema Tod und Sterben von jungen Menschen. Wobei Ausnahmen immer auch die Regel bestätigen, denkt man nur an das preisgekrönte Drama Mondscheinkinder von Manuela Stacke aus dem Jahr 2005. Bei doxs! spielt dieses Thema immer wieder eine Rolle, in diesem Jahr in dem bemerkenswerten Dokumentarfilm von Marco Giacopuzzi, „Phil und das Traurigsein“ (2017) aus der Reihe „Schau in meine Welt!“. Mit dem Traurigsein sind die Depressionen gemeint, mit denen der elfjährige Phil zu kämpfen hat. Marco Giacopuzzi zeigt zusammen mit dem Jungen, wie es sich anfühlt, wenn man aus dem Tief nicht mehr herauskommt und nicht mehr leben will, aber auch therapeutische Lösungsansätze, um mit dieser Krankheit fertigzuwerden. Es ist ein Film, der Mut macht, sich aber trotzdem nicht scheut, die Gefahren (bis hin zu den Suizidgedanken des Jungen) aufzuzeigen.
Wie aussichtslos sich manchmal das Leben für Kinder anfühlt, wird auch in dem niederländischen Wettbewerbsbeitrag „Luister“ („Zuhören“, Astrid Bussink, 2017) spürbar. Von den Filmbildern nicht so gelungen, bewegt er aber auf der Tonebene ganz immens. Es sind Originalmitschnitte vom Kummertelefon für Kinder zu hören – voller Verzweiflung und Hilfsbedürftigkeit. Das ist Realität nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in Deutschland. In der Spielfilmproduktion für Kinder hierzulande kommt diese Realität eher seltener vor, wichtiger scheinen oftmals Abenteuer, Pferde- oder Detektivgeschichten zu sein.
Soziale Realitäten anstatt geschönter Marketing-Bilder
Interessant ist zudem, wie sich die Darstellung der sozialen Realität von Kindern in den Dokumentarfilmen von der in Spielfilmen unterscheidet. Bei den doxs!-Beiträgen finden sich kaum kunterbunte Kinderzimmer voller Spielzeug, mit blinkenden Lichterketten und Stoffhimmel über dem Bett, keine Lofts oder schmucke Einfamilienhäuser. Hier sind – wie in dem bewegenden niederländischen Film „Meisje met een Missie“ („Mirunas Mission“, 2017) von Heleen D’Haens und Eva van Barneveld – enge Wohnverhältnisse, betrunkene Väter, Schmutz auf den Straßen zu sehen. Es ist das Zuhause der 14-jährigen Rumänin Miruna und ihrer zwölf Geschwister. Kaum hat sie Zeit für sich, einen Platz, an dem sie ungestört lernen kann, sowieso nicht. So wie ihre Eltern will sie später nicht leben. Sie will raus aus dem Milieu und Polizistin werden. Und wenn man sie so vor der Kamera erlebt, weiß man, dass sie ihr Lebensziel auch erreichen wird.
In dem Programmblock für Integrationsklassen und geflüchtete junge Menschen, „Wir zeigen es allen! Kurzfilme mit wenig Sprache“, war auch der polnische Film „Rogalik“ (2012) zu sehen, der vor einigen Jahren beim Festival lief. 17 intensive, spannende Minuten lang betritt Regisseur Pawel Ziemilski verschiedene Häuser eines polnischen Dorfs und fährt mit der Kamera vom Flur aus in die Küche bis ins Wohnzimmer hinein, wo sich die einzelnen Familien zum Weihnachtsfest zusammen gefunden haben. Kein Wort fällt, kein Kommentar wird gesprochen, allein die Bilder erzählen unglaubliche Geschichten von sozialer Wirklichkeit. Realistische Geschichten, in denen sich Kinder wiederfinden.
Die Preise bei doxs!
Große Klappe für „Obon“ (2018) von Andre Hörmann und Anna ’Samo’ Bergmann
Begründung der Jugendjury: „Wir zeichnen einen Film aus, der ein wichtiges Thema auf neue Art und Weise wieder ins Bewusstsein ruft.
Die animierte Bildebene und sein realistisches Sounddesign erzeugen eine emotional berührende Wirkung. Die Jury hat beeindruckt, wie über die Erzählung einer Zeitzeugin ein bekanntes historisches Ereignis mit einer Familiengeschichte verwoben wird. Dabei verzichten die Filmemacher*innen auf einschlägige Archivbilder und machen stattdessen die Vergangenheit durch Animationen lebendig.
Die Themen Atomwaffen, Krieg und deren Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung sind bis heute von großer Relevanz. Obwohl wir viele Filme zu diesem Thema kennen, hat uns seine Machart begeistert. Anders als viele konventionelle Produktionen vermittelt das ausgezeichnete Werk die Grausamkeit des Ereignisses emotional – mit einer manchmal verstörenden Wirkung auf Zuschauer.
Es wird spürbar, dass Krieg in keinem Fall ein probates Mittel darstellt, um Konflikte auszutragen."
ECFA Documentary Award für „Apollo Javakheti“ (2017) von Bakar Cherkezishvili
Begründung: „Mit den Füßen auf der Erde, mit dem Kopf in den Wolken – der Film, den wir prämieren, erzählt in gleichem Maße von der Lebensrealität, wie auch dem Lebenstraum seines Protagonisten. Wir waren tief beeindruckt von der ehrlichen und authentischen Art und Weise, mit der der Filmemacher seine Hauptfigur zeichnet. Auf poetische und eindrucksvoll stringente Weise, lässt er sich in seiner Form immer von seinem Protagonisten leiten. Der Film nähert sich so einem Gefühl des Staunens, das Kino in seinen besten Momenten ausmacht und bei Kindervorführungen sogar hörbar wird.“