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Festivals | | von Reinhard Kleber

Migration und Identität

Filme über junge Menschen beim Max Ophüls Preis 2021

"Sami, Joe und ich" (c) Abrakadabra, Nelly Rodriguez

Geschichten junger Menschen standen im Mittelpunkt einiger Beiträge des diesjährigen Filmfestivals Max Ophüls Preis. Insbesondere das Thema Migration war dabei präsent. Ein Blick auf ausgewählte Filme des (digitalen) Festivaljahrgangs 2021.

Das Filmfestival Max Ophüls Preis gilt als das wichtigste Forum des deutschsprachigen Nachwuchsfilms. Veritable Kinder- und Jugendfilme laufen dort eher selten. Weil die meisten Regisseur*innen recht jung sind, setzen sie sich aber oft mit Sujets auseinander, die eng mit Kindheit und Jugend verknüpft sind. So auch in diesem Jahr, in dem die Filmschau erstmals online stattfand. Sowohl in den Wettbewerben als auch in den Nebenreihen gab es bemerkenswerte oder starke Filme mit jungen Identifikationsfiguren. Zwei Themenkreise stachen im Programm ins Auge: Migration und Identität. Mehrere Filme schilderten Krieg, Vertreibung, Armut, Integrationsprobleme, andere beleuchteten die Suche nach einem Platz im Leben, nach Selbstwert, Orientierung und Heimat.

Geschichten aus Kriegsgebieten

Zur ersten Kategorie gehört der 28-minütige Spielfilm „Tala'Vision‟ von Murad Abu Eisheh, der 1992 in Amman geboren wurde und an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert. In klaustrophobischen Szenen zeigt er, wie die achtjährige Tala im syrischen Bürgerkrieg fast allein in einer Wohnung ausharren muss. Als der Vater auf Befehl der Terrormiliz IS den Fernseher auf die Straße werfen muss, kann Tala nicht mehr die Fußballspiele mit ihrem Idol Lionel Messi sehen und muss sich etwas einfallen lassen. Konsequent aus der Perspektive des Mädchens erzählt, werden wir Zeug*innen einer zunehmenden Isolation und eines unbändigen Freiheitswillens. Der eindringliche Film gewann den Preis für den besten mittellangen Film.

Ein weniger bekannter Krieg liefert die Folie für das 53-minütige Familiendrama „Ich geh nirgendwohin‟ von Bidzina Gogiberidze, der 1987 in Tiflis geboren wurde und seit 2015 an der FH Dortmund Film & Sound studiert. Einige Jahre nach dem georgisch-russischen Krieg von 2008 leben die Kriegswaise Elena und ihr jüngerer traumatisierter Bruder Leo bei ihrem Großvater David. Als dieser stirbt, müssen sie in ein Heim in der nächsten Stadt. Als sie es dort nicht mehr aushalten, können sie nicht mehr in Davids Haus zurück, weil russische Soldaten illegal die Grenze verschoben haben. Mit großer Sensibilität beobachtet die Kamera von Sebastian Wosik, wie liebevoll die Geschwister einander stützen, während eine inhumane Eroberungspolitik sie unerbittlich ein zweites Mal in die Heimatlosigkeit zwingt.

"Tala’Vision" (c) Philip Henze

Wunsch nach Teilhabe

Um die Migration von Afrika nach Europa geht es auch in dem von Wim Wenders produzierten Debütfilm „A Black Jesus‟ (Verleih: Filmwelt). Mit ihm eröffnete erstmals ein Dokumentarfilm das traditionsreiche Festival. Der italienische Regisseur Luca Lucchesi, der seit 2009 bei mehreren Filmprojekten für Wenders als erster Regieassistent, Editor und Kameramann gearbeitet hat, schildert in großzügigen Cinemascope-Aufnahmen den schwierigen Alltag afrikanischer Migranten im Jahr 2019 in einem Auffanglager in der sizilianischen Kleinstadt Siculiana, der Heimatstadt Lucchesis. Dort werden die Geflüchteten immer wieder angefeindet, während sie auf eine gerichtliche Entscheidung über ihren rechtlichen Status warten. In das politisch aufgeladene Spannungsfeld zwischen Rassismus und Toleranz kommt Bewegung, als der 19-jährige Edward aus Ghana und drei weitere schwarze Asylbewerber an einer Bittprozession mit der Statue eines schwarzen Jesus teilnehmen wollen, die alljährlich am 3. Mai von etlichen Männern durch die Stadt getragen wird. Dank der Unterstützung des Pfarrers stimmt das zuständige Komitee dem Anliegen zwar zu, so dass der Teufelskreis aus Vorurteilen und Ängsten durchbrochen scheint, doch den Migranten hilft das am Ende nicht bei der Integration, werden sie doch in andere Lager zwangsverlegt. Lucchesi verzichtet auf herkömmliche Interviews, er fängt lieber Stimmungen ein und setzt auf genaue Beobachtungen und beiläufig wirkende Impressionen. Stoff zum Nachdenken über christliche Nächstenliebe und Solidarität, aber auch Intoleranz und politische Willkür bietet der Film allemal.

"A Black Jesus" (c) Road Movies, Luca Lucchesi

Als Sammelbecken für straffällig gewordene Nachkommen von Einwander*innen erweist sich das Jugendgefängnis in „Fuchs im Bau‟ des gebürtigen Iraners Arman T. Riahi, der seit 2005 in Wien als Filmregisseur arbeitet. Im Zentrum steht der Pädagoge Hannes, der in einer Wiener Gefängnisschule anfängt, in der die erfahrene Kollegin Elisabeth mit eigenwilligen Methoden jugendliche Häftlinge unterrichtet. Dazu gehört auch die verschlossene Samira, die vom Balkan stammt und ihren Vater ins Koma geschlagen hat. Als sie in Isolationshaft gesteckt wird, versucht Hannes ihr zu helfen, macht aber einen folgenschweren Fehler. Im Mikrokosmos der Haftanstalt lernen wir hier Jugendliche kennen, die ihr Leben schon früh versaut haben. Oder wie Elisabeth sagt: Nur mit einem Schulabschluss haben sie vielleicht noch eine Chance. Mit nüchternem Sarkasmus beschreibt Riahi, wie die Jugendlichen sich an den Zwängen des Jugendstrafvollzugs abarbeiten, aber auch, wie die Lehrer beim Einsatz kunsttherapeutischer Methoden an ihre Grenzen stoßen. In Saarbrücken errang der 39-jährige Filmemacher den Preis für die beste Regie, den Fritz-Raff-Drehbuchpreis und den Preis der deutsch-französischen Jugendjury. Die jungen Juror*innen erklärten zur Begründung: „Insbesondere das Schicksal der verschlossenen Samira, überzeugend gespielt von Luna Jordan, hat uns sehr bewegt. Eine emotionale Achterbahnfahrt: Wir waren wütend. Wir waren genervt. Wir waren glücklich.‟

Noch enger als „Fuchs im Bau‟ verknüpft das Coming-of-Drama „Sami, Joe und ich‟ die Migrationsthematik mit Aspekten der Identität. Die Basler Regisseurin Karin Heberlein porträtiert drei 16-Jährige aus Zürich, die gerade die Schule abschließen und sich auf die Zukunft freuen. Sami hat ständig Stress mit ihren überaus strengen bosnischen Eltern, die schwarze Joe übernimmt einen Putzjob in der Firma, in der ihre alleinerziehende Mutter arbeitet, und Leyla, die aus dem arabischen Kulturkreis stammt, beginnt als einziges Mädchen eine Ausbildung in einer Großküche. In alternierenden Erzählsträngen schildert Heberlein, wie der Zusammenhalt der jungen Frauen erschüttert wird, als Joe von ihrem Arbeitgeber vergewaltigt wird, das aber aus Scham verschweigt, und Sami unter den Einfluss einer islamistischen Organisation gerät und von ihren Eltern nach Bosnien geschickt wird. Dass die geradlinige Inszenierung so authentisch und jugendnah wirkt, resultiert auch daraus, dass Heberlein im Drehbuch Erfahrungen aus Workshops mit Jugendlichen verarbeitet hat und junge Frauen mit Migrationshintergrund wie die Zürcher R&B-Sängerin Naomi Lareine die Musik gestalteten. Der Film, der auf dem Zürcher Filmfestival 2020 den Publikumspreis gewann, erzählt schwungvoll aus der Sicht der Protagonistinnen, wie diese versuchen, der harten Realität zu trotzen und ihren Platz im Leben zu finden. Dazu passt eine Maxime, mit der der Film beginnt und endet: „Behalte immer mehr Träume in deiner Seele, als die Wirklichkeit zerstören kann.‟

Eine eigenwillige Außenseiterstudie

"Trübe Wolken" (c) Salzgeber

Der eigenwilligste, aber auch formal ambitionierteste Beitrag im Spielfilmwettbewerb war „Trübe Wolken‟ von Christian Schäfer, der 2017 mit „Dieter not unhappy‟ sein Regiestudium in Köln abschloss. In seinem beklemmenden ersten Langfilm (Verleih: Salzgeber) porträtiert er den 17-jährigen Eigenbrötler Paul, der mit seiner dysfunktionalen Familie in einem biederen Reihenhaus in einer grauen deutschen Provinzstadt lebt. Paul streift oft durch verlassene Gebäude und stöbert gern in fremden Sachen. Mit seiner Undurchdringlichkeit übt er eine seltsame Faszination auf die hübsche Mitschülerin Dala und den kunstsinnigen Lehrer Bulwer aus. Als ein dichterisch begabter Mitschüler erschlagen im Wald gefunden wird, muss Paul sein Schneckenhaus verlassen. Während es der Kamera von Sabina Sina Stephan souverän gelingt, passend zum wenig verheißungsvollen Titel eine Atmosphäre der Entfremdung und Desorientierung zu kreieren, erzeugt die spröde Kombination aus Coming-of-Age-Film, Familiendrama und Psycho-Thriller ein Klima des Misstrauens und der latenten Bedrohung, die zugleich Anlass gibt zu einer Reflexion über die Ursprünge des Bösen. Wenn die bedächtige Außenseiterstudie viele Handlungsmotive im Vagen lässt, erinnert das nicht zufällig an den unterkühlten Stil der Berliner Schule. Dass der blasse und manipulative Außenseiter so seltsam emotionslos wirkt, macht ihn als Protagonist nicht gerade zum Sympathieträger. Umso beachtlicher ist die Leistung des Hauptdarstellers Jonas Holdenrieder, der den Preis für den besten Schauspielnachwuchs erhielt. Die Jury lobte unter anderem, wie sich in seinen Auftritten „die kleinbürgerliche Ordnung der Dinge‟ spiegele. „Man spürt diese Enge in sich selbst und möchte laut schreien, um sich mit ihm gemeinsam zu befreien. Nichts liegt klar auf der Hand, aber es gelingt Jonas Holdenrieder, das Nichterklärbare spürbar zu machen.‟

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