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Festivals | | von Stefan Stiletto

Lichtspiele drinnen und draußen

Unsere „Schlingel“-Pinnwand 2024

Neue Stop-Motion-Entdeckungen, Geschichten über mehrgewichtige reale und animierte Jugendliche sowie Filme mit überraschenden Auflösungen, dazu defekte Rolltreppen und Lichtspiele auf den Straßen: Beobachtungen und Gedanken rund um das Kinder- und Jugendfilmfestival „Schlingel“ von Katrin Hoffmann und Holger Twele.

Filmbild aus Leben XXL
"Leben XXL" (c) Produktion

Puppentricks

(von Katrin Hoffmann)

Als Fan von Puppentrickfilmen kommt man auf dem Festival in Chemnitz auf jeden Fall auf seine Kosten. In diesem Jahr waren es gleich zwei Filme, die herausragten: „Leben XXL“ (2024) von Kristina Dufková und „Wilde“ (2024) von Claude Barras.

Beide erzählen komplexe Geschichten, die sich an jugendliche und erwachsene Zuschauer*innen richten, und stellen Protagonist*innen in den Mittelpunkt, die mit Identitätskrisen während der Pubertät zu kämpfen haben. Die Puppen sind nicht niedlich gestaltet, sondern besitzen eine ausdrucksstarke Physiognomie. Zudem werden die Geschichten mit einem Soundtrack vertont, der den Themen entsprechend einprägsam komponiert ist.

Schon in den letzten Jahren liefen beim „Schlingel“ mit „Tony, Shelly und das magische Licht“ (2023) von Filip Pošivač oder „Im Himmel ist auch Platz für Mäuse“ (2020) von Denisa Grimmová und Jan Bubeníček sehenswerte Puppentrickfilme. Die Tschech*innen sind in dieser Animationstechnik führend, da sie auf eine lange und erfolgreiche Tradition zurückblicken können. Wir hoffen, zukünftig auf dem Festival mehr davon zu sehen!

Gewichtig

(von Holger Twele)

Obwohl das Krankheitsbild Adipositas in vielen Ländern, darunter auch Deutschland, sehr verbreitet ist, waren davon Betroffene im Kinder- und Jugendfilm bisher eher selten vertreten. Zumindest beim „Schlingel“ 2024 tauchten sie in gleich vier Filmen als junge Hauptfiguren überproportional häufig auf – und längst geht es nicht mehr nur darum, zum eigenen Körper zu stehen, so füllig dieser auch sein mag. Im US-Spielfilm „Empire Waist“ (Claire Ayoub, 2023) muss sich die mehrgewichtige Lenore, deren Hobby Mode-Design ist, nicht nur gegen ihre diätsüchtige Mutter durchsetzen, sondern auch gegen eine neidische Mitschülerin. Im Animationsfilm „Leben XXL“ (Kristina Dufková, 2024) wird dem zwölfjährigen Benjamin, der in einer Band spielt und vor allem gerne kocht und isst, sein Gewicht zum Problem, zumal er sich in ein Mädchen verliebt. Im dänischen Spielfilm „Mr. Freeman“ (Mads Matthiesen, 2024) lernt die 17-jährige Simone, die sich in ihrem Körper nicht wohl fühlt, auf Instagram einen Mann aus Ghana kennen, dessen wahre Absichten unklar bleiben, der ihr aber erstmals im Leben das Gefühl gibt, so akzeptiert und geliebt zu werden, wie sie ist. Und im neuseeländischen Spielfilm „Uproar“ (Paul Middleditch, Hamish Bennett, 2023) möchte der ebenfalls 17-jährige Außenseiter Josh ungeachtet seiner Körperfülle Schauspieler werden und macht zudem die aufbauende Erfahrung, dass beim Rugby kaum ein Gegner an ihm vorbeikommt.

Filmstill aus Uproar
"Uproar" (c) Produktion

Gestürzt

(von Holger Twele)

Kinderfilme aus Russland beziehungsweise aus dem fernen Jakutien sind aus bekannten Gründen zurzeit selten auf Festivals zu sehen. Umso erstaunlicher war daher die Präsentation des Films „Wo die weißen Kraniche tanzen“ (2024) von Michail Wasiljew-Lukatschewski, der in der Tradition der russischen Filmkunst steht und ein Thema aufgreift, das in dieser bisher eher wenig Beachtung fand: der Alltag und die Inklusion körperlich behinderter Kinder. Vanja ist ein solches Kind, das nach einem Sturz in ein Kellerloch am Rückgrat verletzt wurde und daher nicht laufen kann. Zusammen mit seinen beiden Brüdern beteiligt er sich an Mutproben gegenüber einer alten, als Hexe bezeichneten Frau. Er soll in ihre Hütte eindringen und nachsehen, ob im Keller Leichen herumliegen. Gerade als er mühsam die Falltür geöffnet hat, erscheint die alte Frau und stürzt nichtsahnend in den Keller. Im jungen Publikum sind schrille Schreie zu hören, als plötzlich die Hände der Frau am Rande des Kellerlochs erscheinen. Besser hätte es ein Horrorfilm auch nicht machen können. Aber zur Beruhigung: Schnell stellt sich heraus, das die Frau nach dem Sturz von ihren jahrelangen Rückenschmerzen befreit ist. So funktioniert das eben im Kinderfilm.

Publikumsbindung

(von Holger Twele)

Regelmäßig weist das „Schlingel“-Festival sehr hohe Besucher*innenzahlen auf, was vor allem an den gut besuchten Schulvorstellungen an den Vormittagen liegt. Inzwischen wird das wohl nicht mehr nur als Pflichtveranstaltung im Rahmen des Unterrichts gesehen. Bei einer Standardfrage der Moderator*innen nach der Anzahl der bereits besuchten Vorstellungen häuften sich die Antworten, am gleichen Tag bereits den zweiten Film zu sehen. Könnte da ein kleiner Trick dahinterstecken, um das Publikum in den Kinos zu halten? Von Beginn des Festivals an waren die Rolltreppen ins Untergeschoss, wo man sich billigeres Essen und Getränke besorgen kann, sowie die Rolltreppen in die erste und zweite Etage wegen einer Störung außer Betrieb. Nach oben in die Kinos in der zweiten Etage konnte man problemlos gelangen. Zurück ging das nur mit leichter sportlicher Betätigung über die stillgelegten Rolltreppen, was durchaus etwas mühsam ist. Aber fairerweise muss erwähnt sein, dass der vorhandene Aufzug natürlich voll funktionsfähig war und auch gut genutzt wurde.

Nach dem Kino vor dem Kino

(von Katrin Hoffmann)

Während wir beim „Schlingel“-Festival in Chemnitz drinnen in den Kinos tolle Filme sehen konnten, war draußen ab den Abendstunden eine andere Form von Lichtspielen zu erleben. Chemnitz feierte seine besonderen Orte mit innovativem Lichterspektakeln. Die schönste Lichtinszenierung spielte sich auf der Bronzeskulptur von Karl Marx ab, akustisch untermalt mit fremdartigen Klängen.

Karl Marx steht noch immer als große Büste an der Straße der Nationen und blickt streng auf die Spaziergänger*innen hinunter. Obwohl Marx nachweislich nie in Chemnitz war, trug die Stadt bis zur Wende seinen Namen. So hat es etwas historisch Erfrischendes, wenn mit dem Monument kreativ und frech gespielt wird. Bunte Mosaiken lassen Marx’ Kopf in unzählige Teilchen zerfallen, eine Hand nähert sich von unten und fährt dem Karl übers Gesicht, oder aber ein Schwarzweiß-Porträt verwandelt den Kopf plötzlich in eine freundlich blickende Frau. So wird aus dem Nischel (sächsisch für Kopf), wie die Chemnitzer ihren Marx-Kopf liebevoll nennen, eine hochaktuelle farbenfrohe Videoinstallation. Ein erfrischendes Seh- und Klangerlebnis, vor allem wenn man gerade aus einem anstrengenden Film kommt. Für die zukünftige Kulturhauptstadt 2025 sind diese Lichtspiele in jedem Fall schon mal ein spannendes Vorzeichen.

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