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Festivals | | von Horst Peter Koll

Leben lohnt sich. Trotz allem

Das Kinder- und Jugendfilmprogramm der 66. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen 2020

Das Leben annehmen, mit all seinen Höhen und Tiefen – dieses Leitthema zog sich durch die Beträge des Kinder- und Jugendfilmprogramms der 66. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, deren Vielfalt von der atmosphärischen Sommerfantasie bis zum ernsten Drama reichte und in deren Mittelpunkt auffallend oft Mädchen standen. Dass das Festival in diesem Jahr online stattfand, kann auch als Chance verstanden werden. So ist es näher an der Medienwelt der jungen Zielgruppe.

"Un lynx dans la ville" (c) Nina Bisiarina, Kurzfilmtage Oberhausen

Der erste Eindruck war unerwartet, schnell aber verfestigte er sich und erwies sich als beharrliche und widerständige Botschaft: Das Leben lohnt sich, schien einem die überwiegende Zahl der 39 kurzen Kinder- und Jugendfilme zuzurufen, „trotz allem“ und vielleicht sogar gerade weil es so viele negative Dinge gibt und es so viele Rückschläge, Niederlagen und Enttäuschungen zu verkraften gilt. Die generelle Bereitschaft, das auch schon in jungen Jahren ziemlich anstrengende, komplizierte und an Widersprüchen reiche Leben anzunehmen, prägte das Oberhausener Filmprogramm für junge Zuschauer*innen ganz entscheidend. Wobei besonders auffiel: Immer wieder waren es die Mädchen, die sich der Welt und ihren Herausforderungen ebenso wach wie mutig stellten.

Die 66. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen fanden wegen der Corona-Krise komplett „online“ statt. Innerhalb weniger Wochen wurde das Festival ins Netz verlegt, am Ende sah Festivalleiter Lars Henrik Gass alle Erwartungen übertroffen: „Dies wird einen wichtigen Platz in der Geschichte des Festivals einnehmen und weist mit Folgen und Möglichkeiten weit darüber hinaus in die Zukunft.“ In dieser Zukunft wird das Kino als der große, strahlende Raum des atmosphärischen Miteinanders hoffentlich nicht in Vergessenheit geraten. Aber er wird wohl sehr bewusst zur Kenntnis nehmen müssen, dass Filme auch ortsungebunden funktionieren, und das nicht erst seit Corona. Gerade Kinder und Jugendliche haben sich die digitale Mediennutzung längst zu eigen gemacht, jetzt ist das Oberhausener Kurzfilmfestival endlich in ihre Welt gekommen. Und das ist gut so: Nur so kann sich die thematisch und künstlerisch ambitionierte Vielfalt filmischer Darstellungen eine Rolle in ihrem Alltag erobern, sei sie zunächst auch noch so klein.

Neue Perspektiven für den digitalen Raum

Wer sich nach „Oberhausen 2020“ weiterhin dem Netz als einer kreativen Plattform für filmischen Diskurs verweigert, der verschenkt eine wirkungsmächtige Perspektive für den (Kurz-)Film, und das nicht nur in der Bildungsarbeit. Bislang konnte man während der Festivaltage lediglich vor Ort intensiv Filme „tanken“, danach waren sie im (Kino-)Alltag so gut wie nicht mehr sichtbar. Dank Oberhausen öffnete sich der digitale Vorhang quasi „worldwide“ für die Filme. Es wird sich erst zeigen, ob sie dadurch intensiver und auch nachhaltiger präsent waren, immerhin aber konnten sie den digitalen Raum besetzen und neue Perspektiven anstoßen. Gewiss wird dies viel Gesprächsstoff geben, dabei liegt der praktische Nutzwert bereits jetzt auf der Hand, wo doch gerade auch ein junges Publikum ortsungebunden „ihre“ Filme genießen kann. Vielleicht haben einige Vorschulkinder den schönen Animationsfilm „Der kleine Vogel und die Bienen“ bereits auf der „Berlinale“ gesehen, andere hätten ihn womöglich irgendwann einmal durch Zufall im Kinderfernsehen entdeckt; dank Oberhausen wurde die kleine Pretiose von Lena von Döhren, die ihren schwarzen Vogel, den ungeschickten Fuchs sowie andere Tiere zum vierten Mal auf Entdeckung schickte, zum digitalen Online-Erlebnis.

Welches Geschlecht Lena von Döhrens kleiner Vogel hat, ist unbekannt, er könnte also auch weiblich sein, womit er sich prächtig mit zwei weiteren Kurzfilmen aus dem „Programm 3+“ für die Jüngsten ergänzen würde, die von zwei hinreißend selbstbewussten Mädchen erzählen: In „Junu Ko Jutta” („The Shoe of a Little Girl”) von Kedar Shrestha aus Nepal nimmt die fünfjährige Junu die alltägliche Herausforderung an, schon sehr jung auf ihren eigenen Beinen stehen zu müssen. Die aber stecken in Schuhen, die Junu noch nicht richtig anzuziehen weiß, sodass sie in aller Ruhe eine Strategie erarbeitet und diese erfolgreich anwendet. Der Film richtet nicht nur erhellend den Blick in eine unbekannte Lebenswelt, auch macht er deutlich, dass manche kindliche Lernstrategie „worldwide“ funktioniert. Juju handelt dabei ebenso angstfrei wie die kleine Anna im Stop-Motion-Trickfilm „Coeur Fondant” („Melting Heart Cake“) von Benoît Chieux aus Frankreich. In Rotkäppchen-Manier durchquert das kurzsichtige Mädchen einen Wald, um am anderen Ende seinem Freund einen Geburtstagskuchen zu bringen. Doch ein mächtiger Riese kommt ihm in den Weg, und wie die anderen Tiere des Waldes scheint auch Anna von ihm gefressen zu werden. Doch da offenbart sich hinter dem Rauschebart des vermeintlichen Monsters eine ganz neue, wunderbar harmonische Welt, in die man durch einen kleinen Sprung über seinen eigenen Schatten gelangt. Ein schöner Appell an mehr (vorsichtige) Neugier und beherzte Offenheit.

Reisen an Grenzen und über sie hinaus

Auch im „Programm 6+“, das bis auf eine Ausnahme nur Animationsfilme bot, gab es eines dieser starken, erlebnishungrigen Mädchen. Mit dem poetischen Meisterwerk „Boriya“ (Südkorea/Frankreich) von Min Sung Ah taucht man in eine betörend schöne Sommeridylle, einen träge dahinfließenden, ganz von Naturgeräuschen bestimmten Tag, an dem sich die siebenjährige Bori langweilt und sich auf Entdeckungen außerhalb des elterlichen Gutshofs begibt. Am nahegelegenen Fluss plumpst sie ins kristallklare Wasser und droht zu ertrinken. Aus dieser gefahrvollen Situation entwickelt sich ein meditatives, fast spirituelles Jonglieren mit den Wahrnehmungen angesichts des bedrohten jungen Lebens. Bori verliert ihr Gefühl für Raum, Zeit und Schwerkraft, erkundet mit ihren geschärften Sinnen die Grenzbereiche ihres kindlichen Wahrnehmungsvermögens – und kehrt am Ende gesund, erleichtert und zufrieden, aber wohl auch ein Stück verändert nach Hause zurück.

Ein wenig von einer solch metaphysischen Früherfahrung atmen auch die Animationsfilme „Un lynx dans la ville“ von Nina Bisiarina (Frankreich) und „Le poisson fidèle“ des belgischen Autorenkollektivs Atelier Collectif. Beide illustrieren ihre hintergründigen Geschichten auf grafisch nicht weniger reizvolle, jeweils eigenwillige Art und Weise, wobei leicht identifizierbare Erzählmuster bruchlos elegant in abstraktere Bildfolgen übergehen. In „Un lynx dans la ville“ wird ein wissensdurstiger Luchs vom nächtlichen Lichterglanz einer Großstadt angezogen. Überwältigt von den Eindrücken, schläft er auf einem Parkplatz ein, wo ihn am nächsten Morgen die Stadtbewohner entdecken und ihn zum Objekt ihrer aufdringlichen Sensationslust machen, sodass er nun die weniger schönen Seiten des Großstadtlebens erfährt. Auch „Le poisson fidèle” ist eine Art Tierfabel, hier freilich mit umgekehrter Reisebewegung: Drei Geschwisterkinder fahren mit ihren Eltern aus der Stadt an einen idyllisch gelegenen Waldsee, in dem sie ihren ersten Fisch angeln wollen. Als einer anbeißt, erweist er sich als zu klein, sodass sie ihn ins Wasser zurückwerfen, doch in immer neuen Gestalten und Größen kehrt das Tier an den Haken zurück, sodass die Kinder ihn bitten müssen, nicht mehr anzubeißen. Eine im guten Sinne „verrückte“ Geschichte um nachhaltige kindliche Lebenserfahrungen: Auf der Rückfahrt in die Stadt sitzen die Geschwisterkinder tatsächlich als drei kleine Fische auf der Autorückbank.

Die Bedeutsamkeit eines geborgenen Lebens

Der Alterssprung von sechs auf acht Jahre mag sich wie ein unbedeutender Hüpfer anfühlen, tatsächlich aber zeigten die Kurzfilme im „Programm 8+“, dass es einiges mehr an Aufmerksamkeit und Konzentration kostet, sie zu erleben und zu hinterfragen. Zwei Realfilme beeindruckten dabei besonders. Beide entführen in ferne, aber nur auf den ersten Blick „exotisch fremde“ Welten, beide leben erneut von der ungestümen Energie zweier Mädchen. „Ayana“ (Kirgisistan) von Aidana Topchubaeva ist ein einfühlsam-sinnlich inszenierter Dokumentarfilm über das ländliche Familienleben der neunjährigen Ayana, die einen großen Traum hat: Sie will einmal den kirgisischen Nationalsport Kok-boru ausüben und in diesem wilden Mannschaftswettbewerb auf dem Rücken eines Pferdes ein umkämpftes Tierfell ins Ziel bringen. Freilich wäre dies eine Sensation, denn Ayana wäre die erste Frau in dieser Sportart. Beharrlich lebt sie indes ihren Traum, ruht glücklich in sich selbst, selbstsicher nicht zuletzt dank der liebevollen Fürsorge ihrer Eltern. So spektakulär die Sporteindrücke sind, so intensiv brennen sich die kleinen Beobachtungen des Films ein: zärtliche Gesten und Blicke der Eltern, Momente der vertrauensvollen Geborgenheit des Mädchens, das sich selbst herausfordert und doch stets die innere Balance wahrt.

"Furthest From" (c) Kyung Sok Kim, Kurzfilmtage Oberhausen

In jeder Hinsicht Welten davon entfernt lebt die etwa gleich alte Jessie in „Furthest From“ (USA) von Kyung Sok Kim. In einer wenig heimeligen US-amerikanischen Wohnwagensiedlung wird sie von ihrer großen Schwester versorgt, während ihre alleinerziehende Mutter arbeitet, genießt ihre Unabhängigkeit, ihr Spielen mit der eigenen Fantasie sowie mit besten Freunden. Damit aber ist nun Schluss: Der Trailer Park muss wegen Wasserverschmutzung schließen, und Jessie verliert ihren Lebenshalt, weil die Freunde fortziehen und auch ihr eigener Umzug ansteht. Dass das sensible Mädchen die Umbruchsituation schließlich mutig annimmt, beeindruckte auch die Kinderjury, die „Furthest From“ ihren Preis verlieh. „Wir finden es gut, dass der Film mit echten Menschen ist“, heißt es in der Begründung. „Uns hat es gut gefallen, dass man ein anderes Land und eine andere Kultur sieht. Das Ende von dem Film war zwar traurig, aber das hat gut gepasst.“

Sich ein Bild machen

Vieles erleben und erlernen Kinder spielerisch-beiläufig während der Schulferien. In „Ahtapot“ (Octopus) von Engoin Erden (Türkei) verbringen das Mädchen Ece und der Junge Efe, beide etwa zehn Jahre alt, diese Zeit erlebnishungrig an der türkischen Küste, wobei sie irgendwann nicht mehr von den Erwachsenen weggeschickt werden wollen. Als sie eigenständig einen mächtigen Oktopus an die Angel bekommen, strahlen sie vor Stolz – und erschrecken angesichts der unerwarteten Folgen: Die Erwachsenen töten das schmackhafte Tier, wobei sich die Gefühle der Kinder vielsagend in ihren Gesichtern spiegeln.

„Ahtapot“ war „nur“ eine liebenswürdige, aber sehr aufmerksame Sommerfantasie im „Programm 10+“, das ansonsten eher von ernsteren Themen bestimmt wurde – und auch hier wieder mit Mädchen als ausdrucksstarke Protagonistinnen. So wie die neunjährige Inay in „En route“ von Marit Weerheijm (Niederlande): In aller Frühe müssen sie und ihr kleiner Bruder ihrem Vater aus der Wohnung in einer prekären Vorstadt ins städtische Zentrum folgen, wobei Inay den langen Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln immer wieder ausdehnt. Sie beschäftigt sich mit dem Bruder, trödelt, um kleine Entdeckungen zu machen oder vielleicht auch um den Vater zu nerven, der sichtlich um Fassung ringt. Und um seine Würde: Sein Ziel ist eine soziale Einrichtung, wo inzwischen aber die Lebensmittelausgabe beendet wurde, sodass er bei anderen betteln muss. Aus der Ferne sieht und spürt man seine tiefe seelische Verletzung, die nur die kleinen Gesten tröstlicher Zuneigung seiner Kinder mildern. Eine beklemmende, ungemein präzis verdichtete Elegie, die als zufälliges Diptychon mit „Ahtapot“ noch eine weitere, besondere Wirkung erzielt.

Ebenfalls in nicht gerade rosigen Umständen lebt die zehn Jahre alte Andréa mit ihrer alleinerziehenden Mutter. Der brasilianische Film „Baile“ („Summer Ball“) von Cíntia Domit Bittar bebildert mit wenigen aussagestarken Szenen eindrucksvoll ihren Alltag zwischen Zuhause und Schule, zwischen der erschöpften Mutter, die nachts jobbt und tagsüber Passfotos für vorzugsweise alte Frauen herstellt, und ihrer an Alzheimer erkrankten Großmutter. Andréa muss helfen, wo es nur geht, und doch auch die größere Welt um sich herum verstehen lernen. Als sie mit ihrer Schulklasse das Parlament besichtigt und erkennt, dass zu den wichtigen Staatsvertreter*innen so gut wie keine Frauen gehören, klebt sie mit Kaugummi ihr eigenes Passbild an eine noch leere Wand. Ebenso wird sie sich am Ende der strahlenden Schönheit ihrer verstummten Oma bewusst, der ihre eigene Geschichte abhandengekommen ist. So wird Andréa in dieser sensiblen Reflexion über Frauen und Fotografie zu einer Hoffnungsfigur, die in der dritten Generation endlich eine emanzipatorische Chance haben könnte.

So kompliziert ist das Leben. Oder so einfach

Der französische Animationsfilm „Têtard“ („Kaulquappe“) von Jean-Claude Rozec hätte als bedrängende Gruselfantasie statt im „Programm 10+“ gut und gerne auch in die Alterskategorie 12+ gepasst. Künstlerisch virtuos, aber doch recht drastisch führt er vor, wie grausam ein Mädchen sein kann, wenn es von dem jüngeren Bruder massiv genervt wird, der obendrein so hässlich ist, dass er eigentlich gar kein „richtiger“ Bruder sein kann und eher von einem Frosch abzustammen scheint. So eindringlich quält die Schwester den Kleinen mit ihrer Fantasie, bis dieser sie annimmt und sich zum Schrecken der Schwester in einer dunklen Nacht zum nahen Froschtümpel aufmacht. Fast schon funktioniert „Têtard“ als moderne Struwwelpeter-Moritat, was die Kinderjury des evo-Förderpreises freilich nicht davon abhielt, dem Film ihren Preis zu geben. Ihre Begründung klingt ebenso furchtlos wie urteilssicher: „Unser Gewinnerfilm ist super gezeichnet. Die Animation und der Sound passen perfekt zueinander. Wir waren beim Gucken glücklich, trotzdem haben wir uns über das Mädchen geärgert. Der Film funktioniert, obwohl man nicht weiß, ob es ein Traum oder Realität ist.“

„Têtard“ blieb freilich eine (wenn auch sehr reizvolle) Ausnahme im Programm, weit mehr Kurzfilme reihten sich auch im Programm 12+ in die Riege der selbstbewussten, mutmachenden Mädchen ein. So einfühlsam, klarsichtig und unverstellt wie viele niederländische Langspielfilme, so beeindruckt in dieser Hinsicht auch „Elf“ („When Birds Fly Low”) von Luca Meisters. Erneut geht es um eine Schwester und ihren jüngeren Bruder, beide leiden darunter, dass ihr Vater die Familie verließ. Seitdem hat sich die Mutter apathisch verkrochen, und allein die elfjährige Elf hält den Alltag zusammen, verlässt immer mal wieder per Fahrrad das Haus und trifft am Kanal den Vater zum klärenden Gespräch. Am Ende ist sie es, die die tröstende Kraft aufbringt, ihre schlafende Mutter in den Arm zu nehmen. Eine tief berührende, zärtliche Hinwendung, die das Leben und die Zukunft ebenso annimmt wie es das Mädchen Esperança im gleichnamigen Animationsfilm von Jeanne Paturle, Cécile Rousset und Benjamin Serero (Frankreich) tut. Während Esperança aus dem Off erzählt, wie sie mit ihrer Mutter aus Angola nach Frankreich kam, im Bahnhof in Amiens strandete und sich mühsam eine neue Heimat erkämpfte, weiten die großartigen, virtuos auf das jeweils Wesentliche reduzierten Papierzeichnungen die dokumentarische Erzählung zu einer grundsätzlichen Hymne auf Hoffnung und Lebensmut. Das wiederum hat rein gar nichts mit dem hinreißenden, dokumentarischen Naturfilm „Talvinen järvi” („Winter Lake”) von Petteri Saario aus Finnland zu tun – außer dass es auch hier um etwas sehr Grundsätzliches und sehr Wesentliches geht, das dem Leben Haltung und Sinn gibt. Die 13-jährige Emika verbringt ihre Winterferien bei minus 15 Grad auf dem zugefrorenen See Saimaa in einem finnischen Naturschutzgebiet, um mit allen Sinnen die Natur, die Kälte, die Stille zu erfahren. Wie die Zeichnungen in „Esperança“ gewinnen hier die grandiosen Kameraeinstellungen eine grafische Dimension: So magisch, so einfach und so schön kann also das Leben sein, trotz allem.

Lebenshilfe und Hilferufe

"Becky’s Weightloss Palace" (c) Bela Brillowska, Kurzfilmtage Oberhausen

Noch viel mehr eindrucksvolle, stolz und leidenschaftlich dem Leben zugewandte „Mädchen-Filme“ erzählten von existenziell Bedeutsamem: von Flucht und Emigration („Jamila“, Regie: Sophie Vukovic, Schweden) ebenso wie von dem Gefühl, ausbrechen und weglaufen zu müssen („Sans plomb“, Regie: Louise Groult, Frankreich/Deutschland), vom mitleidlos-rigiden Drill, sich gesellschaftlich und familiär unterwerfen zu müssen („Nan Fang Shao Nv“/„She Runs”, Regie: Qiu Yang, VR China/Frankreich) ebenso wie von der komplett entgegengesetzten Einsicht, dass erst die Freiheit der Entscheidung wirklich zu Aufbruch, Hoffnung und Selbstfindung führt („Like Fireworks“, Regie: Ting-wei Chang, Taiwan).

Wenn es denn einen einzigen Film gab, der über alldem wie ein einsamer Stern seine Bahn am Filmhimmel zog, dann war dies „Becky’s Weightloss Palace“ von Bela Brillowska (Deutschland). Was ist das überhaupt? Ein Dokumentarfilm für Jugendliche, ein dokumentarisch anmutender Kurzspielfilm, eine ätzende Performance, eine ungemein raffiniert und klug ausformulierte Mediensatire – oder aber einfach nur ein laut herausgebrüllter Hilferuf? Die 15-jährige Bela Brillowska, die 2019 beim Deutschen Jugendfilmpreis für ihren Kurzfilm „Julchen und die Geister‟ ausgezeichnet wurde, ist Schülerin, Künstlerin und zugleich ihr eigenes Kunstwerk. Im Stil einer Internet-Influencerin gibt sie vor der unsichtbaren Webcam ihren Follower*innen „Lebenshilfe-Tipps“ in Sachen Magersucht, wobei sie beklemmend perfekt den spezifischen Sprachduktus dieser sozialen Netzwerk-Parallelwelt beherrscht. Sie baut auf Web-Präsenz und hohes mediales Ansehen, um sich als „trendige“ Magersüchtige zu vermarkten, wobei sie in Sekundenbruchteilen von übertriebener Euphorie in Hyperaktivität, Panikattacken, Heulanfälle und zickige Selbstrettungsversuche umswitcht. „Becky’s Weightloss Palace“ ist ein faszinierend beunruhigendes Meisterwerk und in gewisser Hinsicht die Essenz von allem, was das diesjährige Kinder- und Jugendprogramm an Themen zu bieten hatte: Lebensangst und Lebensgier, Verzweiflung und Hoffnung, vor allem aber: eine schier unbändige Energie.

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