Festivals | | von Reinhard Kleber
Kampf um Selbstbestimmung
Die Reihe 14plus der "Berlinale"-Sektion Generation 2021
Mit Gewalterfahrungen und Klassenunterschieden, mit Perspektivlosigkeit oder den Folgen des rücksichtslosen Umgangs mit der Natur werden die jungen Protagonist*innen in den diesjährigen Jugendfilmen der Berlinale-Sektion Generation konfrontiert. Eindrücke der Reihe 14plus.
„Ist es leicht jung zu sein?‟ hieß ein sowjetischer Dokumentarfilm des Regisseurs Juris Podnieks aus dem Jahr 1986 über die Erfahrungen von Jugendlichen in Lettland. Eine schonungslose Chronik, die zahlreiche Probleme ansprach und viele Fragen an die sozialistische Gesellschaft aufwarf. Viele Fragen an heutige Lebenswelten von Heranwachsenden stellen auch die Beiträge der 14plus-Jugendfilmreihe der Sektion Generation der Berlinale, die in diesem Jahr wegen der Corona-Pandemie in verkleinertem Maßstab zunächst nur online für Industrie- und Pressevertreter*innen zugänglich war. Wie fühlt es sich als junger Mensch an, familiäre Gewalt zu erfahren, perspektivlos in der Armut stecken zu bleiben oder sich im Exil in der Fremde zurechtzufinden? Oder mitzuerleben, wie Meerestiere durch Eingriffe von Menschen leiden oder verenden? Die Protagonist*innen in den meisten der sieben 14plus-Filme sehen sich mit der Härte des Lebens konfrontiert, müssen um Selbstbestimmung kämpfen und suchen nach einem angemessenen Platz im Leben.
Die Fesseln der Herkunft
So auch Faruk in dem kanadisch-bosnischen Spielfilm „Tabija‟ (White Fortress) von Igor Drljaca, der 1983 in Sarajevo geboren wurde und während des Bosnien-Kriegs mit seiner Familie nach Kanada auswanderte. Faruk wohnt als Waise bei seiner bettlägrigen Großmutter in einem ärmlichen Vorort von Sarajevo und assistiert seinem Onkel, der mit einem Lieferwagen Metallschrott sammelt. Daneben verdient er etwas Geld mit kleinkriminellen Geschäften oder bringt im Auftrag des Gangsters Cedo eine junge Prostituierte zu einem reichen Kunden. Der drängt ihn, Mädchen anzusprechen und ihm zuzuführen. Doch Faruk zögert, vor allem als er die hübsche Mona, Tochter eines neureichen Politikers, kennenlernt. Er verliebt sich in das scheue Mädchen, das mit dem Materialismus ihrer Familie hadert, die es zur Ausbildung zu Verwandten in Kanada schicken will. Je intensiver die Romanze wird, umso mehr wird für Faruk klar, wie groß die Klassenunterschiede zwischen ihnen sind.
In spielerischer Eleganz überschreitet Drljaca, der seit 2013 an dem Stoff gearbeitet hat, in dieser Boy Meets Girl-Variante übliche Genregrenzen, indem er das anfängliche Kriminaldrama allmählich in eine märchenhaft überhöhte Romanze überführt. Parallel dazu verschiebt sich die Erzählperspektive schrittweise von Faruk zu Mona, die auch den Schluss dominiert. Der Nachwuchsstar Pavle Cemerikic („No One's Child‟) und die Kameranovizin Sumeja Dardagnan geben den Liebenden ein bemerkenswert scharfes Profil.
Der Regisseur verortet die Protagonisten sorgfältig in den kontrastierenden Milieus, hier die trostlose Plattenbausiedlung, dort die schicke Nobelvilla. Auch die Folgen des Bosnien-Kriegs mit seinen sozialen Verwerfungen sind immer wieder spürbar. Faruk hat gelernt, opportunistisch zu handeln, um zu überleben, Mona wird vom Chauffeur zur englischsprachigen Schule gebracht und versucht, sich von ihrem engstirnigen Elternhaus zu emanzipieren. Doch beide können am Ende die Fesseln ihrer Herkunft nicht überwinden. „Faruk und Mona sind Gefangene dieser neuen Dynamik in Sarajevo und beiden fehlt es an Kraft, ihre Situation zu ändern‟, sagt der Regisseur im Presseheft. „Manchmal kann man sich nur vorwärtsbewegen, indem man Abschied nimmt. Dieser Film ist ihr Abschiedsbrief an Sarajevo.‟
Ein Emanzipationsversuch
Ein weiblicher Emanzipationsversuch steht auch im Zentrum der norwegischen Dramödie „Ninjababy‟ von Yngvild Sve Flikke. In ihrem zweiten langen Spielfilm nach „Women in Oversized Men's Shirts‟ (2015) erzählt die Regisseurin, die jahrelang für das norwegische Fernsehen gearbeitet hat, von der lebenslustigen Rakel, die sich als Comiczeichnerin versucht und zufällig feststellt, dass sie im siebten Monat schwanger ist. Zu spät, um abzutreiben, und zu früh, um sich an den unzuverlässigen Erzeuger Are zu binden. Während sie sich abstrampelt, um auf teils kuriose Weise ihre Handlungsmöglichkeiten auszuloten, meldet sich der Fötus in Gestalt eines animierten frechen Ninjababys mit Maske immer wieder zu Wort. Angesichts des chaotischen Gebarens der 23-jährigen Rakel wünscht es sich, von Angelina Jolie adoptiert zu werden.
Rakel macht es den Zuschauer*innen nicht leicht, Sympathien für sie zu entwickeln. Zu egozentrisch, sprunghaft, rücksichtslos, aggressiv verhält sie sich gegenüber Are, dem Ex-Lover Mos und ihrer WG-Mitbewohnerin Ingrid. Man kann ihr zugutehalten, dass sie noch nicht weiß, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Doch wie sie etwa einen biederen Adoptionsvorbereitungskurs aufmischt, zeugt von großer Unreife. Leider sind die Figuren dieses auf dem Comic „Fallteknikk‟ von Inga H. Saetre beruhenden, sehr redseligen Films zu holzschnittartig, viele Späße zu flau, die animierten Einschübe zu flach. Obendrein weist die dünne Story einige Längen auf. Dafür überrascht das unerwartete Ende mit seiner Mutmacherbotschaft.
Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung
Vor einer weit gewichtigeren Problemfülle steht die Protagonistin in „Fighter‟, dem zweiten langen Spielfilm des südkoreanischen Regisseurs Jéro Yun nach „Beautiful Days‟ (2018). Jina ist aus dem kommunistisch regierten Nordkorea geflohen und bezieht nach Monaten in einer Eingliederungseinrichtung ihre erste Wohnung in Seoul. Die abgehärtete Ex-Soldatin schuftet in einer Garküche und übernimmt zusätzlich einen Putzjob in einem Boxstudio, um das nötige Geld für die Flucht ihres Vaters zu sammeln, der an der chinesischen Grenze festsitzt. In dem Studio beobachtet Jina junge Frauen beim Boxtraining und findet selbst Gefallen an dem Sport. Der Cheftrainer erkennt ihr Talent und ebnet ihr den Weg zum Profi-Boxen. Während der junge blondgefärbte Trainer Tae-soo sich in Jina verliebt, sucht sie ihre Mutter auf, die die Familie vor vielen Jahren im Stich gelassen und nun in Seoul eine neue Familie hat.
Die eigensinnige Protagonistin stößt immer wieder auf Ressentiments der Einheimischen gegenüber Überläufer*innen aus dem Norden, womit der Film ein verbreitetes soziales Phänomen spiegelt. Eindringlich zeigt das Außenseiterdrama, wie beharrlich Jina sich abmüht, gesellschaftliche Anerkennung zu erringen, aber auch, wie hart der Weg zur Versöhnung sein kann. Getragen wird der Film, der durch die seichte Musikberieselung erheblich an Wirkung einbüßt, vor allem von der starken Hauptdarstellerin Lim Seong-mi, die hier ihre erste Hauptrolle spielt.
Frappierend authentisch
Als stärkster Film der 14plus-Reihe erwies sich „La Mif‟ (ein französisches Slang-Wort für Familie) von Fred Baillif aus der Schweiz. Dass der Regisseur, ein Ex-Profi-Basketballer und Autodidakt, der bisher vor allem Dokumentationen realisiert hat, jahrelang als Sozialarbeiter und Streetworker gearbeitet hat, sieht man seinem kraftvollen Sozialdrama sofort an. Wenn Baillif sieben Mädchen aus Problemfamilien porträtiert, die in einem Heim zusammenleben, und dazu auch einige ihrer Betreuer*innen, dann wirkt seine Beschreibung wie mitten aus dem Leben gegriffen. Die temperamentvollen Mädchen haben diverse seelische Wunden und finden in der Gemeinschaft Trost und Geborgenheit. Sie rebellieren auch gemeinsam gegen Sachzwänge und Zumutungen. Ihr Lebenshunger ist groß, die Sehnsucht nach einem Platz im Leben ebenso. Ihre wichtigste Stütze ist die erfahrene Heimleiterin Lora, die allerdings selbst mit einem geheimen Trauma zu kämpfen hat.
Für die frappierende Authentizität sorgt unter anderem, dass die jungen Laiendarstellerinnen an der Entwicklung ihrer Figuren beteiligt waren und die Dialoge in einem echten Jugendheim in Genf improvisiert wurden. Zum Cinéma Vérité-Stil tragen auch die ständige Handkamera und viele Nahaufnahmen bei. Baillif versteht den Film denn auch als Projekt der Sozialarbeit. Die Inszenierung gliedert sich in neun Kapitel, die die sieben Mädchen, die titelgebende Ersatzfamilie und Lora porträtiert. Weil einige Ereignisse in mehreren Episoden vorkommen und sich dadurch neue Sichtweisen eröffnen, entsteht ein dichtes Geflecht von Geschichten, die geschickt miteinander verwoben sind. Die teils erschütternden Erfahrungen mit familiärer Gewalt oder Missbrauch beleuchten nicht nur die Brüchigkeit familiärer Bindungen, sondern auch die Unzulänglichkeiten der staatlichen Jugendschutzpraxis.
Unter Baillifs sicherer Führung läuft das junge Ensemble der Darsteller*innen, aber auch Claudia Grob als Lora zu Hochform auf. Ihm ist hier ein Geniestreich gelungen, der unbedingt auf die große Leinwand muss. In Berlin zeichnete die Internationale Jury von Generation „La Mif‟ als besten Filme von 14plus aus und erklärte in der Begründung: „Dieser Film entwickelt einen Sog, lässt einen nicht mehr los und trifft mitten ins Herz.‟
Mehr Respekt vor der Natur
Um den bloßen Kampf ums Überleben geht es in „From the Wild Sea‟ von Robin Petré, dem einzigen Dokumentarfilm der Reihe. Die dänische Regisseurin beschreibt in ihrem ersten Langfilm die Bemühungen professioneller Tierschützer wie Dan Jarvis aus Cornwall und ihrer vielen freiwilligen jungen Helfer*innen, verletzte Meerestiere an den Küsten Großbritanniens, Irlands und der Niederlande zu retten. Während der Winterstürme, die wegen des Klimawandels immer heftiger werden, landen immer mehr hilfsbedürftige Tiere in den Rettungsstationen. Dort versorgen Veterinär*innen zum Beispiel Robben, die Plastikstücke erbrechen, und Delfine, die von Schiffschrauben aufgeschlitzt wurden, oder junge Helfer*innen waschen Schwäne, deren Gefieder mit Schweröl verklebt ist.
Der visuelle und dramaturgische Höhepunkt ist ein 19 Meter langer Finnwal, der im Sturm auf die Felsküste geworfen wurde. Wegen seiner schweren inneren Verletzungen können die herbeigeeilten Aktivist*innen ihn nicht mehr retten. Der ruhig komponierte Film, der ohne erklärenden Off-Kommentar auskommt, ist ein eindringliches Plädoyer für mehr Respekt der Menschen gegenüber der Natur, der sie jeden Tag zusetzen. Erklärtes Hauptziel Petrés ist es, die Grenzen zwischen den Zuschauer*innen und den Tieren im Film niederzureißen. Am Anfang und Ende stehen Szenen, die wenigstens ein bisschen Hoffnung vermitteln: Da entlassen Tierschützer*innen am Strand aufgepäppelte Robben aus Käfigen in die Freiheit.