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Festivals | | von Holger Twele

Körper mit Geist und Seele

Jugendfilme bei "Lucas" 2020

Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper ist ein zentrales Thema vieler Jugendfilme, spiegelt er doch einen wichtigen Schritt bei der Entwicklung der Identität. Beim diesjährigen „Lucas‟-Festival wurde dieses Thema überraschend vielfältig anschaulich – von Gewichtsfragen über Krankheit und Behinderung bis hin zum politischen Blick auf den Körper.

"Jeune Juliette" (c) Filmsboutique, Quelle: DFF

Virtuelle Online-Angebote des Internationalen Festivals für junge Filmfans „Lucas‟, alternativ Abstandsregeln im mit 30 Leuten bereits „vollbesetzten“ Kinosaal und Schutzmasken bestimmten das Festival 2020 im Zeichen der Corona-Pandemie. Zufall oder doch Absicht: Was zu einer „reduzierten“, oft nur virtuellen Körperlichkeit und einer nicht immer sofort erkennbaren Identität hinter den Masken führte, war im Programm der bestimmende Fokus auf Körperlichkeit bei nahezu allen Produktionen der Langfilmwettbewerbe 13+ und Youngsters 16+. Das Bewusstwerden des eigenen Körpers und seine Akzeptanz setzt bekanntlich spätestens mit der Pubertät ein und war daher schon immer ein wichtiger Aspekt von Filmen über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens. Überraschend kamen lediglich die Fülle und eine Vielschichtigkeit, mit der die vom Festival ausgewählten Filme Körperlichkeit thematisierten.

Dünn oder dick

Besonders augenfällig ist das in dem Debütfilm „Ecstasy“ (2020) von Moara Passoni, einer brasilianischen-amerikanischen Koproduktion. Er erhielt den „Lucas‟ Youngsters Award und dürfte wohl der anspruchsvollste Film der Sektion gewesen sein, zumindest in Bezug auf die künstlerische Umsetzung. In einer beeindruckenden Mischung aus Spiel-, Dokumentar- und essayistischem Experimentalfilm erzählt die Autorenfilmerin anhand des Alter Egos Clara ihre eigene Geschichte. Es ist die eines magersüchtigen Mädchens, das fast bis aufs Skelett abmagert, um die Macht über ihren Körper nicht zu verlieren und ins Bodenlose zu fallen. Von der politisch unermüdlich aktiven Mutter und der Ärzteschaft kann sie in dieser existenziellen Extremsituation allerdings nur sehr bedingt Hilfe erwarten. Selten wurde dieses Thema aus der Innensicht einer unmittelbar Betroffenen künstlerisch so überzeugend umgesetzt, wobei sich private Aufnahmen, Nachrichtenbilder, eher abschreckende und poetische Aufnahmen von großer Sensibilität zu einem wahren Bilderrausch verdichten. – In der kanadischen Komödie „Young Juliette“ von Anne Émond, die ebenfalls biografische Züge trägt, schlägt der Umgang mit dem eigenen Körper eher ins vom Gewicht her deutlich messbare Gegenteil um. Nachdem die Mutter die Familie vor einigen Jahren verlassen hatte, nahm die inzwischen 14-jährige, rothaarige Juliette aus Frust und Kummer ständig zu. Fachlich neutral als adipös zu bezeichnen, finden Juliettes Mitschüler*innen weitaus weniger schmeichelhafte Ausdrücke dafür. Sie wird gemobbt und gemieden, nur nicht von ihrer einzigen Freundin, die mehr auf Mädchen steht als auf Jungen, wie sich erst später herausstellt. Juliette, die bis zur Schmerzgrenze selbst kräftig austeilen kann, lässt sich dennoch nicht unterkriegen. Sie hat sich in den coolsten Typ der Schule verliebt und hofft, anhand von lebhaften Tagträumen sehr unterhaltsam visualisiert, dass sich ihr Schwarm in sie verlieben könnte, ungeachtet ihrer Körperfülle.

"Êxtase" Quelle: DFF

Krankheit und Behinderung

Menschen, die krank oder behindert sind, sehen sich mit ihrer Körperlichkeit besonders konfrontiert, wobei der eigene Umgang mit dem „nicht perfekten“ Körper genauso wichtig ist wie die Reaktionen der Umwelt auf solche Abweichungen vom vermeintlichen Idealbild. Im australischen Film „Milla Meets Moses“ von Shannon Murphy ist die 16-jährige Milla unheilbar an Krebs erkrankt. Ihre Lebensgeister kehren unverhofft zurück, als der Junkie Moses sie an einem Bahnhof beinahe umrennt und sie sich auf der Stelle in diesen ruppigen, egomanischen und zugleich charmanten Draufgänger verliebt. Sehr zum Leidwesen ihrer Eltern, die Moses von ihrer Tochter fernhalten wollen, aber gerade noch rechtzeitig ihren Fehler erkennen. – Um eine Liebesgeschichte der besonderen Art geht es auch in „My Brother Chases Dinosaurs“ (Italien/Spanien 2019) von Stefano Cipani. Der Preisträgerfilm des Young Audience Award der Europäischen Filmakademie entstand nach einer wahren Geschichte, die über Italien hinaus viel Aufmerksamkeit erregt hat. Lange will Jack nicht wahrhaben, dass sein geliebter Bruder mit dem Down-Syndrom zur Welt gekommen und behindert ist. Er glaubt vielmehr, dass dieser etwas ganz Besonderes sei und Superkräfte haben müsse. Als sich der schüchterne Jack nach dem Wechsel auf eine weiterführende Schule in seine selbstbewusste neue Klassenkameradin Arianna verliebt, bestreitet er plötzlich die Existenz seines Bruders, um Arianna gegenüber besser dazustehen. Das bleibt nicht ohne Folgen für ihn und die ganze Familie.

Gegen den Strom

Natürlich muss man nicht krank, körperlich angeschlagen oder behindert sein, um als Jugendlicher mit der eigenen Körperlichkeit hart konfrontiert zu werden. Manchmal reicht es wie in „Mein etwas anderer Florida Sommer“ von Simon Bird schon, als Junge lange Haare zu haben, wenn diese von der Mutter als ungepflegt bezeichnet werden. Zudem trägt Daniel nur schwarze Kleidung in jedem passenden und unpassenden Moment und steht auf Heavy Metal. Ein Schock für ihn, dass er die gesamten Sommerferien mit seiner alleinerziehenden Mutter verbringen muss, nachdem sein Vater die Einladung nach Florida kurzfristig abgesagt hat, weil er mit seiner neuen Frau ein Baby erwartet. Die mit der Mutter geführten einsilbigen Gespräche, die ein weitgehend zurückgezogenes Leben führt und nicht gerade ein Vorbild für Daniel ist, entbehren nicht einer gewissen Tragik, wobei man in dieser sehr britischen Komödie aber nicht sicher sein kann, wer von den beiden mehr zu bedauern ist. Bei der Jury 13+ kam dieser Film jedenfalls bestens an und wurde von dieser mit dem Preis für den besten Langfilm in dieser Kategorie ausgezeichnet. – Die Brasilianerin Alice in „Alice Júnior“ von Gil Baroni wiederum trägt mit Stolz ihre langen Haare und fühlt sich damit ganz als feminine Frau. Sie wird zu ihrem Leidwesen von anderen dennoch häufig als Junge wahrgenommen. Alice ist transident und obendrein eine erfolgreiche Influencerin. Durch den Beruf ihres alleinerziehenden Vaters verschlägt es sie in die Provinz und noch dazu an eine streng katholische Schule. Alice lässt sich aber nicht einschüchtern und mit viel Witz und Charme gelingt es ihr, neue Freund*innen zu finden und sogar auf einen ersten Kuss zu hoffen, mit einem Mann natürlich. – Gegen überkommene Rollenklischees und gängige Erwartungshaltungen müssen auch die vier Protagonistinnen im deutschen Dokumentarfilm „Glitzer und Staub“ von Anna Koch und Julia Lemke ankämpfen, den diese in den USA gedreht haben. Völlig unabhängig davon, ob die Mädchen erst neun Jahre alt sind oder schon 17, haben sie es sich in den Kopf gesetzt, als Cowgirls in eine klassische Männerdomäne einzudringen und auf dem Rücken mächtiger Bullen Rodeo zu reiten oder bei den Wettkämpfen Lasso zu werfen. Für ihren eigenen Traum von Amerika nehmen sie dabei nicht nur ein hartes Training, sondern auch körperliche Verletzungen in Kauf. – Eher traumatischer Natur sind die Erfahrungen der 17-jährigen Autumn mit einer patriarchisch und erzkonservativ geprägten Gesellschaft in den USA. Offenbar nicht aus freien Stücken schwanger geworden, möchte sie das Kind abtreiben, doch das ist Minderjährigen in Pennsylvania ohne Zustimmung der Eltern nicht erlaubt. Sie hat weder ein Recht auf ihren Bauch noch auf die Unversehrtheit ihres Körpers im Falle von sexueller Nötigung und Gewalt. So macht sie sich mit ihrer Cousine heimlich auf den Weg nach New York, um dort den Eingriff vornehmen zu lassen. Eliza Hittman ist mit „Niemals Selten Manchmal Immer“ (2020) ein stiller, eindringlicher Film gelungen, der ohne viele Worte auskommt und ganz von seinen beiden Hauptdarstellerinnen und ungewöhnlich bedrückenden Bildern der Metropole New York lebt.

"Alice Junior" (c) BeijaFlorFilmes, Quelle: DFF

Der politische Aspekt des Körpers

Selbst bei den ganz privaten und persönlichen Geschichten über den Umgang mit Körperlichkeit lässt sich das gesellschaftspolitische Klima mitsamt den politischen Hintergründen nicht ausblenden. Das gilt für die schon genannten Filme, aber deutlicher noch für die folgenden: Der australische Dokumentarfilm „In My Blood It Runs“ (2019) von Maya Newell porträtiert einen zehnjährigen Aboriginal, der sich angesichts der langen Unterdrückung seines Volkes durch die weißen „Eroberer*innen“ lange vor der internationalen Bewegung „Black Lives Matter“ innerlich zerrissen fühlt zwischen der eigenen jahrtausendealten Kultur und der von den Weißen auferzwungenen Kultur und Schulbildung. – Weiße Kolonialherren waren es auch, die in Ruanda den Keim für eine wertende Unterscheidung zwischen den eher hochgewachsenen Tutsi und den kleineren Hutu legten. Viele Jahre später, zu Beginn der 1990er-Jahre, mündete dieser Konflikt um gesellschaftliche Vorteile im Völkermord an den Tutsi. Der nicht zuletzt durch seine überragende Bildsprache beeindruckende Film „Our Lady of the Nile“ (Frankreich, Belgien, Ruanda) von Atiq Rahimi spielt nach einer Literaturvorlage etwa zwanzig Jahre zuvor in einem katholischen Eliteinternat für Mädchen, wo sich die ethnischen Konflikte bereits andeuten und zur offenen Gewalt führen. – Der kanadische Film „Antigone“ von Sophie Deraspe nimmt die klassische Tragödie zur Vorlage für eine Geschichte über Migration und Integration im heutigen Montréal. Dort haben Antigone und ihre Geschwister mitsamt der Großmutter vor vielen Jahren Zuflucht gefunden. Während der in der Schule äußerst erfolgreichen Schwester alle Türen für eine gute Zukunft offen stehen, sind die älteren Brüder auf die schiefe Bahn geraten. Der eine wird bei einem Polizeieinsatz getötet, den anderen versucht Antigone zu retten, indem sie sich die Haare schneidet, als Junge verkleidet in die Rolle des Bruders schlüpft und ihn aus dem Gefängnis befreit. Doch ihr persönliches Opfer, durch das sie selbst in die Zwickmühlen der Justiz gerät, und ihre Auffassung von Familienzusammenhalt und Gerechtigkeit wird nicht von allen gewürdigt. Der emotional tief bewegende Film gewann sowohl den Bridging The Borders Award (ex aequo mit „Los Lobos“) als auch den Publikumspreis.

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