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Festivals | | von Reinhard Kleber

Im Clinch mit den Eltern

Jugendfilme beim Max Ophüls Preis 2019

Freundschaften, Cliquen, erste Liebe und die Abnabelung von den Eltern. Das sind Themen, die viele Jugendliche und junge Erwachsene umtreiben, gestern wie heute. Es sind auch Themen, die junge Filmemacher*innen gerne aufgreifen. Die entsprechenden Konflikte liegen noch nicht lange zurück und beschäftigen sie oft noch immer. Das konnte man einmal mehr beim diesjährigen Filmfestival Max Ophüls Preis beobachten: Insbesondere im Spielfilmwettbewerb setzten sich gleich mehrere Beiträge intensiv mit problematischen Beziehungen zwischen Söhnen und ihren Eltern, insbesondere den Vätern auseinander.

Konfrontation in der Einöde

In „Lysis“ erzählt Rick Ostermann, der 2014 in Saarbrücken sein packendes Spielfilmdebüt „Wolfskinder“ im Wettbewerb präsentierte, vom außergewöhnlichen Abenteuertrip des 16-jährigen Felix und seines draufgängerischen Vaters. Felix trägt noch den schwarzen Anzug von der Beerdigung seiner Mutter, die bei einem tragischen Unfall gestorben ist, als er mit seinem Vater zu einem Rafting Trip in ein abgelegenes Alpental aufbricht. Zehn Jahre sind sich die beiden nicht mehr begegnet. Nun hofft der Vater, bei einer Bootstour auf einem wilden Gebirgsbach, bei Gesprächen am Lagerfeuer und Übernachtungen im Wurfzelt seinem Sohn wieder näherzukommen. Doch Felix sperrt sich, rebelliert und sabotiert den Ausflug, indem er das aufblasbare Boot samt Proviant davontreiben lässt. Die schwerwiegenden Folgen mitten in der lebensfeindlichen Tiroler Einöde hat der Bursche zum Ärger des aufgebrachten Vaters nicht bedacht.

Das Besondere an dem Zwei-Personen-Stück: Alle Aufnahmen stammen aus drei kleinen Kameras, die entweder auf den Schutzhelmen der Protagonisten oder auf dem Boot beziehungsweise auf der Erde montiert sind. Vater und Sohn filmen ihren Trip sozusagen im Selfie-Modus. Das schafft eine große Nähe zu den Figuren, deren Sichtweise wir fast durchweg einnehmen, irritiert aber auch oft wegen der vielen Wackelbilder. Der 40-jährige Ostermann hat ohnehin kein reguläres Drehbuch geschrieben, sondern lässt Oliver Masucci (Vater) und Louis Hoffmann (Sohn) improvisieren. Die ungewöhnliche Machart verleiht dem Film fast semidokumentarischen Charakter. Wenn das Arrangement nicht so ganz überzeugt, so liegt das zum Teil an der wenig plausiblen Prämisse, dass der Vater den Ausflug in einem Video festhalten will, der Sohn aber kein Interesse daran hat. Immerhin bringen die Grenzerfahrungen, die beide unterwegs durchmachen, Vater und Sohn wieder näher zusammen.

Aus der Sicht eines Vaters

Eine gewisse Entfremdung herrscht auch zwischen Vater und Sohn in Carlos Morellis zweitem Kinospielfilm „Der Geburtstag“. Matthias und Anna leben schon seit einiger Zeit getrennt. Sie sehen sich nur noch wegen ihres siebenjährigen Sohnes Lukas. Zum siebten Geburtstag von Lukas richten die beiden trotz der noch nicht verheilten Wunden gemeinsam die Geburtstagsfeier aus, die wegen eines Unwetters vom Freien ins Wohnzimmer verlegt werden muss. Als aber am Ende der kleine Partygast Julius nicht von seinen Eltern abgeholt wird, muss Matthias aufbrechen, um Julius nach Hause zu bringen. Zunächst will Matthias Julius nur möglichst schnell loswerden, doch dann weckt der hilflose Junge seinen Beschützerinstinkt. Während er sich in einer ereignisreichen Nacht länger und intensiver um den fremden Jungen kümmert, öffnen sich seine Augen für die Bedürfnisse von Lukas.

Morelli, der mit seinem Spielfilmdebüt „Mi Mundial“ (2017) in seinem Heimatland Uruguay den zweitgrößten einheimischen Box-Office-Erfolg in der Kinogeschichte des Landes errang, verarbeitet unübersehbar eigene Erfahrungen, verfremdet diese jedoch ästhetisch reizvoll durch eine atmosphärisch dichte Schwarzweiß-Fotografie, die einerseits mit raffinierten Schattenwürfen von Figuren auf Mauern auf Meisterwerke des deutschen Filmexpressionismus anspielt und andererseits Film Noir-Klassiker zitiert. Der von beruflichen Zwängen und einer neuen Freundin gestresste Protagonist Matthias kommt mit seiner Vaterrolle nicht klar, leidet unter Ängsten und Zweifeln. Erst die Abenteuer, die er mit einem anderen hilfsbedürftigen Jungen erlebt, bringen ihm späte Einsicht und weisen ihm den Weg, seine Vaterschaft wirklich anzunehmen. Die in drei Kapitel gegliederte Erzählung über eine moderne Patchwork-Familie setzt allerdings etwas zu oft auf den dramatischen Effekt von Zufällen, etwa wenn ein Polizeiauto mit misstrauischer Beamtin ausgerechnet dann um die Ecke biegt, wenn Matthias gerade mit Julius aus dessen leerer Wohnung geflohen ist.

Trip in fantastische Welten

Der mit Abstand stärkste Film mit Vater-Sohn-Sujet in Saarbrücken war jedoch „Nevrland“, der Langfilmregieeinstand des 1985 in Linz geborenen Gregor Schmidinger, der zuvor erst zwei Kurzfilme mit homosexueller Thematik gedreht hat, die auf YouTube zusammen mehr als 15 Millionen Mal aufgerufen wurden. Nach eigenem Drehbuch erzählt er die Geschichte des 17-jährigen Jakob, der noch bei seinem grantigen Vater und dem pflegebedürftigen Großvater in Wien wohnt. Um etwas Geld für das angestrebte Studium zu verdienen, jobbt er im Schlachthof, in dem sein wortkarger Vater arbeitet, zu dem er ein angespanntes Verhältnis hat. Jakob wird von immer schwerer zu kontrollierenden Angststörungen und Panikattacken heimgesucht und flüchtet sich deshalb gerne in virtuelle oder fiktive Welten. In einem Sex-Video-Chat lernt er den 26-jährigen Künstler Kristjan kennen, mit dem er sich bald auch im realen Leben trifft. Durch mehrere Besuche in lauten Clubs öffnet sich für den Jungen die Tür zu einer Reise in die Tiefen seiner Phantasien, Ängste und Wahnvorstellungen.

Schmidinger hat eine schlüssige Form für die immer belastender werdenden inneren Reisen des Protagonisten entwickelt, der sich einmal fragt: „Wie kann ich echt sein, wenn ich nichts fühle?“ Während sich die Grenzen zwischen Realität, Phantasie, Rausch und Albträumen für Jakob zunehmend auflösen, verstärken eine pulsierende elektronische Musik und ein manchmal geradezu verstörender Soundtrack den starken Sog der Erzählung noch. Da der starrsinnige Vater ohnehin kein Verständnis für den Sohn aufbringt, verliert dieser den letzten familiären Halt, als der Großvater stirbt. Getrieben vom Wunsch, die Wunden seiner Seele zu heilen, versinkt er immer tiefer im titelgebenden unergründlichen Nevrland.

Josef Hader spielt den Patriarchen gewohnt souverän und eindrucksvoll, wird vom Nachwuchstalent Simon Frühwirth aber deutlich übertroffen. In Saarbrücken gewann Frühwirth für diese Leistung den Preis für den besten Schauspielernachwuchs. Zur Begründung erklärte die Jury: „Dieser Schauspieler macht verstehbar, was zu oft unaussprechlich bleibt. Diese schauspielerische Leistung ist - in der Tat – beängstigend gut.“ Die Jugendjury zeichnete „Nevrland“ mit ihrem Preis aus und schrieb in der prägnanten Begründung: „Der Film nimmt uns mit in ein Labyrinth der Gefühle, in welchem die Hauptfigur gefangen ist. Er handelt vom Älterwerden, vom Entdecken der eigenen Sexualität und von den Ängsten eines Jugendlichen, die auch uns nicht fern sind. Eine atmosphärische Lichtführung kreiert eine bedrückende Atmosphäre. Dabei scheut er auch nicht vor tabuisierten Themen: Porno, Sex, Psychose. Kurz: Ein absoluter Brainfuck.“

Sicherheit durch radikale Abschottung

Eine spezielle Form der Psychose steht im Mittelpunkt des Familiendramas „Goliath96“, das in Saarbrücken in der Sektion „Watchlist“ lief. Der 1974 in Merseburg geborene Regisseur Marcus Richardt hat für seinen ersten langen Kinospielfilm ein schwieriges Sujet gewählt, bei dem er sich von einem Ereignis in der eigenen Familie inspirieren ließ: einen Fall von Hikikomori. So nennt man in Japan Menschen, die sich von ihrer Umwelt komplett isolieren und auf sich selbst zurückziehen. Betroffen davon sind in erster Linie männliche Jugendliche und junge Männer. Das Phänomen ist in Japan weit verbreitet, dort soll es eine halbe Million Fälle geben. Im Internet-Zeitalter scheint sich das Krankheitsbild aber auch im Westen auszubreiten. Vor einem Jahr schilderte die Kölner Regisseurin Isabel Prahl in ihrem Spielfilmdebüt „1000 Arten, den Regen zu beschreiben“ den Fall eines 18-jährigen, der sich in seinem Zimmer einschließt und mit seinem radikalen Rückzug die Familie zu sprengen droht.

Gemeinsam ist beiden Filmen, dass sich die kammerspielartige Inszenierung auf sehr wenige Personen konzentriert. Arbeiten sich bei Prahl Mutter, Vater und jüngere Schwester unermüdlich vor der Zimmertür des Sohnes ab, der praktisch nie zu sehen ist, so versucht bei Richardt nur die alleinerziehende Kristin, den Kontakt zu ihrem 21-jährigen David wiederherzustellen, der seit zwei Jahren jedes Gespräch verweigert und nur nachts zum Verzehr von Tiefkühlpizzen aus dem Zimmer kommt. Nach außen hin gibt sie an, David studiere in Texas.

Kristin versteht nicht, warum sich David so radikal verweigert. Das gespenstische Nebeneinanderherleben in der kleinen Wohnung ist für sie zu einer fast unerträglichen Belastung geworden. Doch die Alltagsroutine wird durchbrochen, als Kristin ihre Stelle in der Bank verliert. Über eine Ex-Freundin von David, die sie zufällig im Kaufhaus trifft, findet sie heraus, dass David auf einem Internetforum für Flugdrachen aktiv ist. Als Studentin mit Decknamen meldet sich Kristin dort an, identifiziert den Account ihres Sohnes und nimmt Kontakt mit ihm auf. Der Chat-Austausch wird immer häufiger und intensiver, bis die Mutter in eine heikle Situation gerät, denn ihr Sohn verliebt sich in seine anonyme Chat-Partnerin.

In der Einleitung und durch kleine Rückblenden erfährt man ein wenig über die familiäre Vorgeschichte: Vor etlichen Jahren ist Davids rumänischer Vater bei einem Familienurlaub am Meer spurlos verschwunden, die Recherchen des Jungen in Rumänien blieben erfolglos, David gibt der Mutter die Schuld für dessen Verschwinden. Ansonsten bleiben viele Motive im Dunklen und viele Fragen offen. Dazu gehört auch das teils sprunghafte und wenig plausible Verhalten Kristins: Warum holt sie sich nicht schon früher professionelle Hilfe? Und wieso beginnt sie ebenfalls, sich abzukapseln, ihre beste Freundin zu ignorieren und sich sozial zu isolieren? Alles, was sie ja gerade bei ihm Sohn so hasst.

Erfreulicherweise verzichtet die einfühlsame Regie auf vordergründige Erklärungen für das verstörende Verhalten von David, der sehr dünnhäutig geworden ist und sich aus Angst vor anderen Menschen übergeben muss, als er sich kurz vor dem Ende doch einmal auf eine dunkle Straße hinaustraut. Ein Lob verdient der konsequente Schluss, der keine billige Auflösung herbeizaubert, aber einen Hoffnungsschimmer zulässt. Damit ist „Goliath96“ aber auch leichter zu verdauen als „1000 Arten, den Regen zu beschreiben“.

Katja Riemann spielt das verzweifelte Muttertier mit großer Hingabe und Kraft, ohne ins Pathos auszuweichen, es ist eine ihrer besten Leistungen vor der Kamera überhaupt. Der junge Nils Rovira-Munoz, der erst nach einer Dreiviertelstunde überhaupt richtig zu sehen ist, hat es aufgrund der extremen Verschlossenheit der Figur im Vergleich dazu deutlich schwerer, meistert die Aufgabe aber souverän. Insgesamt ein eindringliches Außenseiterdrama, das uns die Chancen und Gefahren der Internetkommunikation aufzeigt, die es ja erst ermöglicht, sich physisch aus der Welt zu verabschieden und zugleich digital an ihr teilzuhaben, und ein berührendes Familiendrama, das uns nahebringt, dass Vertrauenspersonen nur mit viel Toleranz, Geduld und Einfühlungsvermögen eine Chance haben, den Betroffenen aus ihrer Selbstisolation herauszuhelfen.

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