Artikel > Festivals

Festivals | | von Holger Twele

Gleichberechtigung als gelebte Utopie im Film

"Schlingel" 2019

Selbstbewusste junge Mädchen und Frauen wissen sich zu behaupten und lehnen sich gegen überkommende Rollenbilder auf. Das Programm des 24. „Schlingel‟ versammelte einige Produktionen, in denen Genderfragen und die Gleichwertigkeit aller Geschlechter thematisiert wurden.

"Binti" (c) Farbfilm

Überraschend stach beim diesjährigen „Schlingel‟, dem internationalen Filmfestival für Kinder und junges Publikum in Chemnitz, quer über die Sektionen hinweg ein Thema hervor, das unabhängig von Quotenregelungen längst Vergangenheit sein müsste, es offenbar aber noch lange nicht ist: die Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit der Menschen, unmittelbar genderbezogen oder auch etwas allgemeiner gefasst. Allen Programmen, Absichtserklärungen und Emanzipationsbestrebungen zum Trotz ist diese Thematik virulent geblieben, scheint angesichts reaktionärer Bestrebungen in vielen Teilen der Welt sogar verstärkt wieder in den Fokus zu rücken. In jedem Fall beschäftigt es Filmschaffende beiderlei Geschlechts, die mit ihren Werken vorrangig ein junges Publikum ansprechen wollen. Und genau das ist die gute Nachricht, selbst wenn sich die Frage hier nicht eindeutig beantworten lässt, ob Kinder- und Jugendfilmproduktionen der gesellschaftlichen Entwicklung nachhinken oder im Gegenteil sogar ein besonders feiner Seismograf für Veränderungen sind.

Gleichberechtigung

Warum muss der Weihnachtsmann eigentlich immer männlich sein? Kann er nicht auch dem weiblichen Geschlecht angehören? Für die Leitung der internationalen Weihnachtsschule in Dänemark ist so etwas undenkbar. Die selbstbewusste Tochter des dänischen Weihnachtsmanns ist dagegen ganz anderer Ansicht und setzt alles daran, diese Schule wie die Jungen ebenfalls besuchen zu dürfen. Als Gewinnerin einer Lotterie hat sie sogar einen Wunsch frei. Aber man versucht sie auszutricksen. Unter der Bedingung, dass sie den Weihnachtswunsch eines Jungen erfüllt, dessen Vater nach einem Angriff von einem wilden Tier als hoffnungsloser Fall in der Psychiatrie dahinvegetiert, will man sie in der Schule zulassen. „Lucia und der Weihnachtsmann“ (2018) von Christian Dyekjær stellt nicht nur liebgewonnene patriarchale Traditionen infrage, es gelingt dem Film zugleich, das spannende Genre des Fantasy-Abenteuerfilms erfolgreich mit dem zuckerklebrigen Motiv des lieben Weihnachtsmanns zu verbinden und in eine bittersüße Parabel über männliche Selbstgefälligkeit, Vorurteile und soziale Ausgrenzung zu übertragen. – Altbewährtes neu aufbereiten möchte auch der schwedische Film „Halvdan, der Wikingerjunge“ (2018) von Gustav Åkerblom, der sich den Klassiker „Ronja Räubertochter“ (Tage Danielsson, 1984) zum Vorbild nahm und die Geschichte über zwei miteinander verfeindete Dorfgemeinschaften erzählt, die dank der unerlaubten Freundschaft zwischen dem schüchternen Halvdan und der klugen Meia wieder zueinanderfinden. An sein berühmtes Vorbild reicht dieses Fantasy-Märchen über Toleranz und Verständigung zwar nicht heran, aber immerhin sind sich die beiden Kinder halbwegs ebenbürtig und ihr berühmter symbolkräftiger Sprung über den trennenden Abgrund wird anders in Szene gesetzt als zu erwarten war.

"Lucia und der Weihnachtsmann" (c) Filmproduktion

Der in pittoresken Bildern eingefangenen sozialen Realität und der ungleichen Behandlung der Menschen und der Geschlechter verhaftet ist Carmel Winters in „Float like a Butterfly“ (2018). Die Vater-Tochter-Geschichte spielt vor der Folie der grausamen Diskriminierung einer Großfamilie von Nichtsesshaften durch die Bevölkerung und insbesondere der Polizei im Irland der 1960er-Jahre. Bei einer Razzia stirbt die Mutter von Frances und ihr Vater, der sie rächen möchte, landet für viele Jahre im Gefängnis. Als junge Frau hat Frances, die sich den Boxer Muhammad Ali alias Cassius Clay zum Vorbild nahm, gelernt, sich zu behaupten und auch körperlich durchzusetzen. Ihr gerade aus dem Gefängnis entlassener Vater bleibt allerdings den klassischen Rollenbildern verhaftet. Er möchte lieber seinen im Kampfsport unerfahrenen jüngeren Sohn opfern, als zu akzeptieren, dass Frances nicht mehr bereit ist, allein Heim und Herd wie ihre Mutter zu hüten.

Der französische Animationsfilmer Michel Ocelot blendet in „Dilili in Paris“ (2018) kunstvoll zurück in die Vergangenheit der Belle Époque, allerdings nicht ohne aktuelle Bezüge zur Verdinglichung von Mädchen und Frauen in einigen heutigen Gesellschaften. Das Mädchen Dilili mit neukaledonischen Wurzeln hat genug, den Besucher*innen in einem Menschenzoo zu zeigen, wie die Ureinwohner*innen früher einmal in der französischen Kolonie gelebt haben. Sie möchte endlich Paris und seine Bewohner*innen kennenlernen und findet in dem Lieferjungen Orel einen verlässlichen Freund und Helfer. Die ganze Stadt befindet sich in Aufruhr, nachdem immer wieder Mädchen spurlos verschwinden. Zusammen mit Orel kommt Dilili einer geheimen Verschwörung von frauenhassenden Männern auf die Spur, die ihre Opfer einsperren und abrichten, um sie auf allen Vieren kriechend und von einem schwarzen Tuch umhüllt, als bequeme Sitzgelegenheit zu „benutzen“. Starker Tobak mit Happy End, wobei die animierten Figuren in der fotorealistischen Kulisse von Paris agieren. Indem der Film zugleich berühmte Persönlichkeiten jener Zeit in die Handlung einbindet wie etwa Monet, Rodin, Marie Curie oder die Theaterschauspielerin Sarah Bernhard, gelingt es dem einzigartigen Film, die Filmkunst mit anderen Künsten anschaulich in Beziehung zu setzen. Ein solches Ziel, von dem Deutschland leider noch meilenweit entfernt ist, verfolgt übrigens auch die analoge und digitale Filmbildung in Frankreich.

"Papicha" (c) Filmproduktion

Auch der Film „Papicha“ (2018) von Mounia Meddour, eine Koproduktion zwischen Algerien, Frankreich, Marokko und Katar, spielt nicht in der Gegenwart, sondern in Algerien Anfang der 1990er-Jahre, als das radikal islamische Regime die individuellen Freiheitsrechte vor allem der Frauen gewaltsam einschränkte und unterdrückte. Trotz der Repressalien versucht die 18-jährige Studentin Nedjima, die sich dem ultrakonservativen Regime verweigert, ihren Traum zu erfüllen und eine öffentliche Modenschau auf die Beine zu stellen. Und natürlich sind es nicht nur Männer, sondern auch Frauen, die dieses „ungebührliche“ Verhalten mit aller Macht und blutiger Gewalt zu verhindern suchen. „Papicha“ aus dem Jugendfilmwettbewerb erhielt den erstmals vergebenen Fair-Play-Filmpreis, den eine gemischte Jury mit Jugendlichen aus dem italienischen Giffoni und aus Chemnitz vergab.

Gleichheit und Gleichwertigkeit

Angesichts eines solchen menschenverachtenden Fanatismus treten andere Benachteiligungen womöglich in den Hintergrund, obwohl sie für die betroffenen Mädchen, die Hauptfiguren vieler Filme, alles andere als harmlos und unbedeutend sind. Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit sind nicht nur eine Gender-Angelegenheit, sie umfassen nahezu alle Lebensbereiche. Im indischen Film „Chuskit“ (2018) von Priya Ramasubba, der seine Deutschlandpremiere bereits auf dem Kinderfilmfest München hatte, möchte ein Mädchen vom Land, das nach einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist, unbedingt weiter in die Schule gehen. Nicht nur die örtlichen Gegebenheiten sind ein Hindernis, sondern mehr noch die traditionellen Vorstellungen des Großvaters.

In „100 Kilo Sterne“ (2018) von Marie-Sophie Chambon träumt die genetisch vorbelastete, stark übergewichtige Hauptfigur davon, später einmal Astronautin zu werden und ins Weltall zu fliegen. Nach einer Hungerkur kommt sie in die Psychiatrie und findet dort neue Freund*innen und Verbündete, mit denen sie den Aufbruch zu den Sternen wagt und auf einer abenteuerlichen Reise zu einem Raumfahrt-Wettbewerb erfährt, dass sie alle zwar etwas „anders“ sind, aber dennoch gleichwertig und gleichberechtigt.

"100 Kilo Sterne" (c) Filmproduktion

In der belgisch-niederländischen Produktion „Binti“ (2019) von Frederike Migom fühlt sich die aufgeweckte zwölfjährige Hauptfigur, die mit ihrem Vater aus Zentralafrika seit vielen Jahren illegal in Belgien lebt und in ihrem witzigen Video-Blog ständig ihren Alltag kommentiert, längst als waschechte Belgierin, bis dem Vater plötzlich die Abschiebung droht. Beide finden in einem abgelegenen Baumhaus vorübergehend Unterschlupf, das dem introvertierten elfjährigen Elias gehört, der mit seiner alleinerziehenden Mutter in der Nähe wohnt. Schon bald beziehen Binti und ihr Vater dort Quartier, sehr zum Missfallen des Nachbarn, der Binti und ihren Vater so schnell wie möglich wieder loswerden möchte.

Der südkoreanische Regisseur Jinyu Kim hat in „Bori“ (2018) eigene Erfahrungen aus der Kindheit verarbeitet. Eigentlich könnte die elfjährige Bori in ihrer Familie rundum glücklich sein, obwohl die Eltern und der kleine Bruder gehörlos sind. Nur sie kann sprechen und hören, weshalb sie sich in der Familie zunehmend als Fremde fühlt und vor allem sehr einsam. Um diesen Zustand zu ändern, versucht Bori alles, um selbst gehörlos zu werden, was ihr zum Glück nicht ganz gelingen wird. Der mit dem Publikumspreis und dem Preis der Stadt Chemnitz ausgezeichnete Film ist mit 110 Minuten zwar etwas lang geraten, aber sehr liebevoll und behutsam inszeniert, mit langen ruhigen Einstellungen und einer ausdrucksstarken Hauptdarstellerin, der man gerne in ihre Gefühlswelt folgen mag.

Bleibt abzuwarten, ob sich im Kinder- und Jugendfilm auch bei den Jungen so viel tut und neue Rollenbilder entstehen – vielleicht gar schon im nächsten Festivaljahrgang. Einen ersten Vorgeschmack bietet der demnächst in den Kinos startende Film „Der Junge und die Wildgänse“ (2019) von Nicolas Vanier, der das erzählerische Gerüst von „Amy und die Wildgänse“ (Carrol Ballard, 1996) auf Europa überträgt und wunderschöne Schauplätze in Südfrankreich und Nordnorwegen aus dem Blickwinkel von Wildgänsen zeigt. In diesem mit dem ECFA-Preis und dem Sonderpreis des mdr ausgezeichneten Abenteuerfilm wird ein 14-jähriger abgelaschter Nerd mit Tablet/Brett vor dem Kopf zu einem engagierten Tierschützer und dank der Prägung zum „Muttertier“ für die vom Aussterben bedrohten Wildgänse.

Zurück