Festivals | | von Reinhard Kleber
Gestörte Mutter-Tochter-Beziehungen
Impressionen vom Filmfestival Max Ophüls Preis 2023 in Saarbrücken
Gleich mehrere kurze, mittellange und lange Spielfilme richteten beim diesjährigen Filmfestival Max Ophüls Preis ihren Blick auf das spannungsreiche und differenzierte Verhältnis von Müttern und Töchtern. Ein Streifzug durch das Programm.
Vertrautheit, Zärtlichkeit, Geborgenheit, aber auch Reibereien, Streit und Feindseligkeit: Zwischen Töchtern und ihren Müttern ging es in etlichen Wettbewerbsfilmen des diesjährigen Filmfestivals Max Ophüls Preis in Saarbrücken teilweise hoch her. Da wallten die Emotionen zuweilen heftig auf, entluden sich Spannungen zwischen Mädchen und Frauen, fanden aber diejenigen, die sich so intensiv gestritten haben, oft genug auch wieder Wege zu Respekt und Versöhnung.
Verlustängste und Freiheitssehnsucht
Emotional besonders eng verbunden sind Mutter und Tochter in dem Schweizer Familiendrama „Semret“ von Caterina Mona aus dem Wettbewerb der langen Spielfilme. Semret ist aus Eritrea geflohen und hat mit ihrer Tochter Joe in Zürich Zuflucht gefunden. Die verschlossene Mutter arbeitet in einem Krankenhaus und strebt eine Ausbildung zur Hebamme an. Sie wird von Albträumen heimgesucht und gewährt Joe nur wenig Freiheiten. Als die 14-Jährige anderen Exilant*innen aus Eritrea begegnet und beginnt, nach dem Verbleib des Vaters zu fragen, kann Semret ihre traumatische Vergangenheit nicht einfach weiter verdrängen. Dabei versucht ihr der eritreische Krankenhausgehilfe Yemane zu helfen, der auf den Entscheid zu seinem Asylantrag wartet. Derweil freundet sich Joe mit Yemanes schüchternem Neffen Tesheme an.
Dass Semret ihre Tochter möglichst vor allen potenziell schädlichen Faktoren von außen abschirmen will, tut sie nicht aus purer Strenge oder Willkür, sondern aus Fürsorge. Semret und Joe sind auf sich allein gestellt, sie haben offenbar keine Verwandten mehr und müssen sich gegenseitig stützen. Umso größer sind die jeweiligen Verlustängste. Joe versteht das auch, benötigt aber auch mehr Freiheit und Vertrauen, um sich entfalten zu können und Verantwortung für sich zu übernehmen.
Die 1970 in Zürich geborene Autorin und Regisseurin leuchtet diese anfänglich geradezu symbiotische und spannungsreiche Bindung von Tochter und Mutter in vielen Zweier-Szenen in ruhigem Erzähltempo aus, weitet über die Figur des Yemane den Blickwinkel aber auch auf die prekäre Situation vieler Migrant*innen aus, die in der Schweiz jahrelang – oft vergeblich – auf Asyl hoffen. Das einfühlsame und gut gespielte Migrationsdrama, dessen Titel auf Deutsch „Einheit“ bedeutet, ging bei der Preisverleihung in Saarbrücken leider unverdientermaßen leer aus.
An mehreren Fronten gefordert
Unter enormem Druck steht auch Mira, die junge Protagonistin in dem österreichischen Spielfilm „Breaking the Ice“ von Clara Stern, einer Absolventin der Wiener Filmakademie. Mira ist Anfang 20, arbeitet lange Stunden im Weingut ihrer Mutter und muss sich oft um ihren dementen Großvater kümmern, der gerne mal ausreißt. In ihrer Freizeit gleitet Mira als ruppige Kapitänin des Eishockeyteams „Dragons“ über das Eis. Der Schutzpanzer, den sie im Stadion trägt, repräsentiert die harte Disziplin, die sie sich selbst auferlegt, um möglichst wenige Emotionen zu zeigen. Doch dann holt die ehrgeizige Trainerin eine neue Spielerin ins Team. Theresa ist ebenso hübsch wie selbstbewusst und verdreht Mira den Kopf. Als die beiden sich gerade in erotische Abenteuer stürzen, taucht plötzlich Miras Bruder Paul auf, ein vergnügungsfreudiger Hallodri, der nach einem Verkehrsunfall mit Todesfolge jahrelang untergetaucht war und sie nun ins bunte Wiener Nachtleben mitnimmt.
Die Protagonistin ist an gleich mehreren Fronten gefordert: als Tochter, Enkelin, Schwester, Geliebte und Kapitänin. Das Verhältnis zwischen Tochter und Mutter steht nicht im Zentrum des mitreißenden Dramas, spielt aber durchaus eine wichtige Rolle. Geprägt ist es von einem gelassenen Pragmatismus, doch manchmal sorgen spontane Äußerungen oder impulsive Handlungen für Aufregung und Reibungen. So vertritt die Mutter eine liberale Linie und möchte dem Demenzkranken so viel Selbstbestimmung wie möglich lassen, während die manchmal überfordert wirkende Tochter seinen Bewegungsradius möglichst begrenzen möchte, um ihn zu schützen und die Nerven der Angehörigen zu schonen. Zum lautstarken Eklat kommt es, als Mira den fernsehenden Großvater eines Abends kurzerhand einschließt und dieser sich erheblich verletzt, als er mit der Hand die Glasscheibe der Tür einschlägt, um sich zu befreien.
In Saarbrücken errang das Sport- und Liebesdrama gleich drei Auszeichnungen und damit so viele wie kein anderer Film – den Preis für das beste Drehbuch, den Preis für den gesellschaftlich relevanten Film und den Preis der Jugendjury. Die jungen Juror*innen erklärten zur Begründung: „Ein Wechselspiel zwischen Schnelligkeit und Gefühl. Authentisch, intensiv und emotional mitreißend. Nicht nur in den zwischenmenschlichen Beziehungen wird das Eis gebrochen, der Film macht das auch mit uns.“
Sehnsucht nach Erlösung
Gleich in mehrfacher Hinsicht gespannt ist auch das Verhältnis der Teenagerin Anja zu ihrer Mutter in dem mittellangen Spielfilm „Wherever Paradise Is“ von Roman Wegera, der damit sein Regie- und Drehbuchstudium an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM) abschloss. Die Mutter ist vor einiger Zeit als Spätaussiedlerin mit Anja und ihrem jüngeren Sohn aus Russland nach Deutschland ausgewandert. Während die Mutter hierblieben möchte und einen neuen Partner sucht, ist Deutschland für Anja nur eine Durchgangsstation. Sie will kein Deutsch lernen und möchte in die USA, ein Wunschtraum, den sie auch einem jungen Mann anvertraut, mit dem sie abends gerne in einem VW-Bus abhängt.
Doch Anja wirkt noch ziemlich naiv und unreif für ihr Alter: Während die junge Mutter von Putzstelle zu Putzstelle eilt, um den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten, schwänzt Anja die Schule und phantasiert sich mit dem kleinen Bruder in alberne Gangsterszenen. Doch dann hört das Mädchen ein Telefonat ihrer Mutter mit, wonach der Vater Russland verlassen und die Familie besuchen möchte – offenbar eine schreckliche Vorstellung für die Teenagerin.
So oft Anja ihrer Mutter auch widerspricht, deren Mahnungen ignoriert und tut, was ihr passt, so liebevoll kümmert sie sich um den jüngeren Bruder. Wegera siedelt einen Großteil der Story in der beengten Wohnung der Familie ein, die trotz der tristen Lebensumstände den Geschwistern gleichwohl ein Stück Geborgenheit bietet. Selbst für ein bisschen Humor ist hier noch Platz. Polina Grinjova spielt die aufsässige und von Widersprüchen geplagte Göre ebenso beherzt wie Nadja Bobyleva die Mutter, die sich aufopfert, um ihren Kindern ein besseres Leben zu bieten.
In Saarbrücken gewann der 28-Minüter von Wegera, der 1993 in Kasachstan geboren wurde und von 2015 bis 2022 in Köln studierte, den Preis für den besten mittellangen Film. Die Jury zeigte sich sehr angetan und lobte ihn in schwelgerischen Tönen: „Dieser Film ist ohne Kalkül aus einer inneren Notwendigkeit heraus geboren. Er ist rau, verwegen und dennoch zärtlich. Dieser Film ist Kino in seiner reinsten Form.“ Es ist übrigens schon das dritte Mal nach 2018 und 2020, dass Studierende der KHM beim Wettbewerb der mittellangen Filme in Saarbrücken den Sieg davontrugen.
Schmerzhafte Abnabelung
Ebenfalls an der KHM entstand der mittellange Spielfilm „Piecht“ von Luka Lara Steffen. Im Zentrum des 30-Minüters steht Johanna, die widerwillig ihre Mutter Ursula zu einem Kurzurlaub in eine abgelegene Siedlung begleitet. Dort hofft sie auf eine günstige Gelegenheit, um der Mutter schonend beizubringen, dass sie nicht zum Abitur zugelassen wurde. Während Ursula sich in der Öko-Community sofort aufgehoben fühlt, ist Johanna von den völkisch-nationalen Parolen einiger männlicher Sektenmitglieder abgestoßen, die sich im Wald zu militärischen Übungen treffen. Noch komplizierter wird die Lage, als auch noch Johannas Geliebte Lilly eintrifft.
In ruhigen Einstellungen hält die Regisseurin fest, wie Mutter und Tochter in unterschiedliche Lebenswelten auseinanderdriften. Je mehr sich Ursula mit den Botschaften der ökologischen Aktivist*innen identifiziert, umso schwerer fällt es der Tochter, mit ihr im Gespräch zu bleiben. Während das Porträt der Mutter-Tochter-Duos einfühlsam gezeichnet wird, kippt der Film gegen Ende in ein unausgegorenes Schreckensszenario, wenn die Mädchen mit einer Gruppe von Rechtsextremisten aneinandergeraten.
Eine doppelte Mutter-Tochter-Beziehung prägt den mittellangen Spielfilm „Istina (Wahrheit)“ der serbischen Filmemacherin Tamara Denic. Die engagierte Fotojournalistin Jelena lebt mit ihrer Tochter Lara und ihrer Mutter in Belgrad. Sie hat sich mit mutigen Fotoreportagen über Nationalisten und Hooligans einen Namen gemacht, wird deswegen aber auch angefeindet. Als Unbekannte in ihre Wohnung einbrechen, zieht Jelena mit Lara nach Hamburg. Bald kommt auch ihr Liebhaber Nikola nach. Trotz seiner Warnungen setzt Jelena ihren gefährlichen Job fort und fotografiert nun für ein deutsches Magazin Demonstrationen von Rechtsradikalen. Selbst ein versierter Leibwächter kann sie aber nicht vor einem Gewaltausbruch bei einer solchen Demo schützen.
Die 1992 in Banja Luka geborene Filmemacherin, die derzeit ihr Masterstudium in Filmregie an der Hamburg Media School absolviert, hat ihren eindringlichen Film allen Medienschaffenden gewidmet, „die täglich ihr Leben für die Presse- und Meinungsfreiheit riskieren“. So lobenswert dieses Engagement auch ist, so problematisch ist die Verbindungslinie, die der Film in der allzu symbolbeladenen Schlusssequenz zwischen Lara und Jelena zieht. Schon bei dem Einbruch in Belgrad wurde Laras Kamera zerstört, ein Vorbote der tragischen Wendung im Finale, in dem Mutter und Tochter gleichzeitig Bilder schießen: Lara fotografiert Möwen an der Küste, Jelena aufgebrachte Demonstranten in Hamburg.
Starke Kurzfilme
Eine besonders irritierende Arbeit legte in Saarbrücken der Regisseur Jonas Steinacker mit seinem österreichischen Kurzspielfilm „Nellys Story“ vor. Nelly ist enttäuscht, dass ihr Vater nicht zu ihrem neunten Geburtstag erscheint. Ihre Mutter vertröstet sie bei einer kleinen Feier, verschweigt ihr aber, dass sie und ihr Mann sich vor vier Tagen getrennt haben und scheiden lassen wollen. Ohne jede Erklärung sperrt Nelly ihre Mutter aus dem schicken Haus aus, verbarrikadiert sich und postet Aufnahmen davon auf dem Instagram-Account ihrer Mutter. Die Mutter muss Polizei und Feuerwehr alarmieren, die sich gewaltsam Zugang verschaffen und Nelly unversehrt finden. Am Ende fallen sich Nelly und ihre Mutter in die Arme.
Doch die vermeintliche Versöhnung mit Kuscheln auf der Couch und bunten Luftballons im Treppenhaus wirkt unecht. Während die Mutter sich auf Instagram für die „vielen unterstützenden Nachrichten“ bedankt, schaut Nelly allein im Wohnzimmer Spielzeugwerbung im Fernsehen. Die seelische Verstörung des Trennungskinds scheint nur vordergründig aufgelöst. Da kein Wort der Versöhnung gefallen ist, stellt sich die Frage, ob die Revolte wirklich gebannt ist. Mit diesem psychologisch ausdifferenzierten Familiendrama gelingt dem 1988 in Bergisch-Gladbach geborenen Regisseur, der seit 2021 bei Michael Haneke und Jessica Hausner an der Wiener Filmakademie studiert, eine beachtliche Talentprobe.
Von tiefer Melancholie durchzogen ist dagegen der Kurzspielfilm „Hinter verschlossenen Türen“ der Hamburger Filmstudentin Masha Mollenhauer. Ihr Elfminüter erzählt von der jungen schwarzen Balletttänzerin Paula, die sich aufopferungsvoll um ihre Mutter kümmert, die an Parkinson leidet. Während sich der Zustand der Mutter verschlimmert, zeigen sich bei Paula ernste Zeichen der Erschöpfung und Überforderung. Gerade hat sie sich für ein Date mit einem Verehrer hübsch gemacht, dann sagt sie schweren Herzens ab und macht zu Hause vor dem Spiegel Tanzübungen.
Das einfühlsame Außenseiterdrama kommt fast ohne Worte aus. Während die einseitige Abhängigkeitsbeziehung ohne jede Larmoyanz geschildert wird, zeigt Mollenhauer zugleich, welche persönlichen Opfer die Tochter bringt. Sie verzichtet auf ein erfülltes eigenes Leben, um die fast hilflose Mutter zu versorgen. Paulas expressiver Tanz fungiert dabei wie ein Druckventil.
Schwerer Vertrauensbruch
Eine einfache Lösung ist auch im Fall von Abel nicht in Sicht. Der Neunjährige ist der Protagonist in der österreichisch-ungarischen Koproduktion „Das andere Ende der Straße“ von Kálmán Nagy. Dass ich hier zum Schluss einen Kurzfilm über eine komplexe Vater-Sohn-Beziehung vorstelle, liegt darin begründet, dass der 22-minütige Spielfilm sich als überragende Entdeckung im Kurzfilmwettbewerb erwies und den Ophüls-Preis als bester Kurzfilm und den Publikumspreis in dieser Kategorie gewann.
Abels Vater fährt mit dem Sohn im Auto zum Haus eines Mitschülers, um mit dessen Eltern zu sprechen. Denn Abel hat berichtet, dass er von seinem Klassenkameraden Bence wiederholt drangsaliert und zuletzt mit einem Stein angegriffen wurde. Als Bence das bestreitet und Abel attackiert, wird er von seinem Vater geschlagen und eingesperrt. Doch dann gesteht Abel auf der Rückfahrt, dass Bence keinen Stein auf ihn geworfen hat. Er wollte sich mit der Lüge für die Belästigungen rächen und hoffte, seinen Peiniger loszuwerden.
Die verhängnisvolle Lüge bringt nicht nur den Vater in die Bredouille, sondern droht das Vertrauensverhältnis zwischen Vater und Sohn zu zerstören. Aber nicht nur Abel macht Fehler, auch sein Vater verliert am Schluss die Nerven und damit die Kontrolle über die heikle Situation. Die Jury in Saarbrücken lobte neben der ruhigen und präzise geführten Kamera vor allem die Darstellerleistungen und schrieb: „Dank eines grandios besetzten Ensembles, dessen feines Spiel uns mitfühlen lässt, führt uns dieser Film an die Grenzen der eigenen Moral.“