Festivals | | von Reinhard Kleber
Gemeinsam sehen, beurteilen und voneinander lernen
Gemischte Jurys aus Kindern und Erwachsenen beim "Lucas"-Filmfestival
Seit 1985 vergeben auf dem „Lucas‟-Filmfestival in Frankfurt Kinder und Erwachsene in einer gemeinsamen Jury die Hauptpreise. Dabei diskutieren die jungen Juror*innen und die erwachsenen Filmbranchenprofis auf Augenhöhe miteinander und stimmen gleichberechtigt über die Preisträger*innen ab. Wie funktioniert das und wie sind die Erfahrungen mit diesem Jury-Modell? Eine Begegnung mit den Juror*innen und dem Festivalteam.
Auf vielen Kinder- und Jugendfestivals vergeben Fachjurys aus erwachsenen Expert*innen und/oder Kinderjurys die Auszeichnungen für die besten Filme. Im Unterschied dazu entschied sich Deutschlands ältestes Filmfestival für junge Zuschauende schon Mitte der 1980er-Jahre, diese Aufgabe einer gemischten Jury anzuvertrauen, in der Kinder und Erwachsene gemeinsam sichten, diskutieren und entscheiden
Ein Blick in die Festivalgeschichte
Die 10. Ausgabe des Kinderfilmfestivals in Frankfurt am Main brachte 1984 einschneidende Veränderungen. Die Filmschau zog in das neue Deutsche Filmmuseum um und richtete erstmals einen Wettbewerb aus. Dafür wurde zum ersten Mal eine Kinderjury eingerichtet. Die neun Mitglieder vergaben die Siegertrophäe, das Frankfurter Guckkastenmännchen, an die Filme „Der Stumme‟ und „Die kleine Bande‟.
Die damalige Ko-Leiterin des Festivals, Elke Ried, beschreibt rückblickend, warum im Folgejahr die reine Kinderjury durch eine gemischte Jury aus Kindern und Erwachsene ersetzt wurde. „Die Grundüberlegung war, Kinder ernst zu nehmen. Wir wollten ihnen in dieser Jury das Wort erteilen. Beim 10. Festival gab es eine reine Kinderjury, und leider haben wir dann erlebt, wie Erwachsene sich über die Urteile der Kinder geäußert haben, und es wurde ganz schnell klar, dass diese Entscheidungen nicht ganz ernst genommen wurden. Das hat uns als Veranstalter doch sehr zu denken gegeben, und wir haben eine Form überlegt, in der Kinder eingebunden werden, aber durchaus auch kompetente Erwachsene. Das hat zur heutigen paritätischen Form geführt, in der Kinder und Erwachsene gleiche Rechte und Pflichten haben. Und die Akzeptanz der Jury-Ergebnisse und damit auch der Entscheidungen der Kinder in der Jury waren in der Folge kein Problem mehr.‟
Bei der 11. Ausgabe des Festival trat erstmals eine Jury aus Kindern und Erwachsenen an, die zwei gleichwertige Preise vergeben sollte: Einen Film mit Bezug zur Wirklichkeit und einen Film aus der Märchen- und Fantasiewelt. Die Jury war allerdings diesmal noch nicht streng paritätisch besetzt, gehörten ihr doch drei erwachsene Fachleute und vier Schüler*innen an. Sie zeichnete auftragsgemäß zwei Filme mit ihrem Preis, der nun „Lucas‟ genannt wurde, aus: „Mit den Teufeln ist nicht zu spaßen‟ und „Ake und seine Welt‟ – allerdings mit jeweils getrennten Begründungen von Kindern und Erwachsenen.
So ganz reibungslos scheint die Zusammenarbeit von Heranwachsenden und erwachsenen Fachleuten in den Folgejahren nicht gelaufen zu sein. Elke Ried erinnert sich im Jubiläumsband „20 Jahre Internationales Kinderfilmfestival Frankfurt am Main‟: „In manchen Jahren waren sich die Kinder und die Fachleute sehr schnell einig. Das sind für mich die besten Filme, die sowohl die Kinder als auch die Kritik überzeugen. Aber es hat auch Jahre gegeben, in denen die Jury sich nicht einigen konnte und getrennte Preise vergeben wurden. Wichtig war bei der Preisvergabe vor allem auch die intensive Auseinandersetzung zwischen Kindern und Fachleuten, die sicherlich für beide Seiten profitabel war.‟
Neues Profil, aber weiterhin gemischte Jurys
Das Festivalprofil von „Lucas‟ wurde 2016 grundlegend verändert. Beibehalten wurden jedoch gemischte Jurys. Derzeit gibt es diese in den Kategorien 8+ und 13+. Die Jury 8+ bestand bei der 45. Festivalausgabe 2022 aus drei Kindern und drei Fachleuten: der zwölfjährigen Maya aus Frankfurt, dem elfjährigen Anir aus Frankfurt und dem elfjährigen Moritz aus Wiesbaden, der Dramaturgin und Autorin Beate Völcker, dem Publizisten Rochus Wolff und dem Kinderbuchautor und Regisseur Robert Scheffner. Gemeinsam sichteten sie acht Langfilme und 13 Kurzfilme.
Für die drei jungen Juror*innen war ein solcher Einsatz eine Premiere. Maya und Moritz hatten sich schon im vorigen Jahr für die Tätigkeit beworben, wurden aber nicht ausgewählt. Dafür wirkte Maya beim Workshop „Kritikfenster‟ mit, während Moritz Online-Filmgespräche mit zwei Filmschaffenden der Wettbewerbsfilme führte. Anir war dieses Jahr mit seiner ersten Bewerbung erfolgreich. Maya bringt für die Aufgabe bereits einige Vorkenntnisse mit. „Ich gehe einmal im Monat ins Kino. Ich war letztes Jahr in der Theater AG meiner Schule. Und an meinem Geburtstag habe ich in einem Frankfurter Trickfilmstudio einen eigenen Stop-Motion-Film gedreht‟, berichtet Maya. Eine ähnliche Vorgeschichte hat auch Moritz vorzuweisen: „Ich gehe etwa einmal im Monat mit meinen Eltern oder Freunden ins Kino, und wir schauen jeden Freitag einen Film, und im vergangenen Jahr habe ich auch in der Theater AG mitgemacht.‟ Anir geht ebenfalls häufiger ins Kino. „Vor den Sommerferien haben wir im Fach Englisch einen Kurzfilm gedreht, weil wir mit dem Lernstoff schon fertig waren. Darin haben wir auch Englisch gesprochen.‟
Ein intensives Auswahlverfahren
Mit der Suche nach den neuen Juror*innen beginnt das Festivalteam schon relativ früh im Jahr. „Im Februar starten wir die Bewerbung mit einer Ausschreibung, die per Mail oder auf persönlichem Weg eine Vielzahl an Schulen erreicht‟, erzählt Festivalleiterin Julia Fleißig. „Darüber hinaus veröffentlichen wir eine Pressemitteilung zu der Ausschreibung, nutzen die vielen E-Mail-Verteiler, die wir über die Jahre aufgebaut haben und bewerben den Jury-Aufruf über unsere Social Media-Kanäle.‟ Bei den jüngeren Juror*innen ist es nach ihrer Erfahrung oft so, dass die Lehrer sie zu einer Bewerbung motivieren oder die Eltern einen Aufruf in der Zeitung gelesen haben und ihre Kinder darauf aufmerksam machen. Nach und nach trudeln dann die Bewerbungen ein, die in der Regel aus einem ausgefüllten Fragebogen und der Besprechung eines frei wählbaren Films besteht. In diesem Jahr gingen fast 70 Bewerbungen ein. „Nach zwei Jahren Pandemie haben sich viele junge Menschen über das Angebot gefreut. Das war deutlich zu spüren‟, so Fleißig.
Danach organisiert das Festivalteam eine Reihe von Treffen, um die Bewerber*innen kennenzulernen. Julia Fleißig: „Während der Corona-Pandemie haben wir die Bewerber*innen in kleineren Gruppen in Zoom-Meetings versammelt. Gemeinsam haben sie Kurzfilme oder Filmausschnitte geschaut und darüber diskutiert.‟ Diese Gespräche geben dem „Lucas‟-Team Aufschluss, wer sich für die Juryarbeit eignen würde. Die Treffen verteilen sich über eine ganze Woche. „Dabei achten wir darauf, dass die Gruppen nicht zu groß werden, sonst werden wir jedem Einzelnen nicht gerecht‟, betont Fleißig.
Die erwachsenen Fachjuror*innen müssen sich dagegen nicht bewerben, sie werden gezielt eingeladen. „Wir schauen uns um – wer könnte spannend sein und hat eine Woche Zeit‟, sagt die Festivalleiterin. „Man muss schon eine Woche hier sein, damit sich die Gruppenarbeit so richtig entwickeln kann.‟ Bei den Kandidat*innen stelle sie eine große Begeisterung fest: „Die meisten wissen ja, dass die Arbeit hier mit einem spannenden Austausch verbunden ist.‟
Gemeinsam Kriterien finden
Auf eine Schulung oder ausführliche Einführung der Kinderjuror*innen verzichtet das „Lucas‟-Team. „Uns ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen ohne große Anweisungen in der Festivalwoche ankommen und sich die Gruppe dann selbst findet‟, so Fleißig. „Die Gruppe soll selbst festlegen, wie sie in der Woche vorgeht und sich organisiert. Schreiben sie mit, vergeben sie Noten, analysieren sie ein Gewerk besonders ausführlich? Da gibt es viele Möglichkeiten. Klar, die erwachsenen Profis bringen ihre Erfahrungen und Ideen mit. Aber man darf nicht vergessen, dass die Kids mittlerweile schon im Kindergarten Demokratie-Workshops haben und ganz gut mitreden können.‟
Für Fleißig ist besonders erfreulich, dass die jungen Juror*innen im Zuge ihrer Tätigkeit dazulernen und sich öffnen. „Gerade bei der Jury 8+ merkt man, dass sie Filmkritiken fast nur über Mainstream-Filme schreiben und bei „Lucas‟ das erste Mal etwas Anderes sehen. Man sieht ihnen an, dass sie innerhalb der Woche in ihre Aufgabe reinwachsen. Wir hatten auch noch nie das Problem, dass sie mit der Freiheit nicht umgehen können.‟ Simon Schmidt, bei „Lucas‟ für die Themen Filmvermittlung und Schulkooperationen zuständig, ergänzt: „Sie freuen sich in der Regel, dass sie diesen Freiraum bekommen und nicht in ein enges Korsett gezwängt werden, nach welchen Kriterien sie die Filme bewerten sollen.‟
Der gleiche Ansatz gilt auch für die Jury 13+, die zusätzlich einen Preis für eine außergewöhnliche Leistung vergibt. „Die Jugendlichen in dieser Jury sind meist supercinephil und treten mit 14 oder 15 Jahren teilweise schon wie Filmwissenschaftler*innen auf. Wir versuchen, spannende Mischungen aus jungen Menschen zusammenzustellen, die sich gut artikulieren können." Dazu kommt, wie Simon Schmidt anmerkt, dass in der Jury 13+ oft Jugendliche mitmachen, die sich schon mit Kurzfilmen auseinandersetzen. „In der Filmanalyse achten sie bereits auf formale Aspekte wie Montage oder Kameraarbeit.‟
Wenn man 22 Filme zu sichten und zu beurteilen hat, sollte man diese Tätigkeit sinnvoll strukturieren. Die jungen und älteren Frankfurter Juror*innen haben das in Eigenregie gestaltet. Ausgangspunkt war ein zentrales Erkenntnisinteresse, wie Moritz sagt: „Wir haben uns überlegt, was am wichtigsten in den Filmen ist.‟ Sein Kollege Anir betont: „Wir haben die Filme verglichen und entschieden, welche besser sind und welche wir wahrscheinlich schon streichen können.‟ Das Führen eines Protokolls überließen die Jungjuror*innen gerne Rochus Wolff und Beate Völcker.
Die Autorin Beate Völcker unterstreicht die Bedeutung von Kriterien. „Wir haben uns am Anfang über Kriterien verständigt und die auch jeden Tag überprüft. Als bei einer Sitzung mehrere Filme auf der gleichen Ebene waren, haben wir uns gesagt, wir sollten noch mehr Kriterien finden, die uns an dieser Stelle helfen.‟ Als zentrale Kriterien nennt sie: „Ist die Geschichte klar und schlüssig? Wie ist der Film gemacht? Hat er eine Botschaft? Und ist es ein ermutigender Film für Kinder?‟ Ihr junger Kollege Moritz ergänzt: „Der Film muss kinderfreundlich sein, so dass man den Inhalt Kindern ab acht Jahren zeigen kann.‟
Wer schon mal in einer Jury mitgemacht hat, weiß, dass manchmal gegensätzliche Positionen aufeinanderprallen können und der Weg zu Kompromiss oder Konsens steinig sein kann. Natürlich gibt es auch Jurys, die reibungslos und harmonisch arbeiten. Aber wie geht man vor, wenn größere Differenzen in der Filmbewertung auftauchen? Moritz berichtet: „Einen richtigen Konflikt gab es nicht, aber manchmal war es nicht so ganz leicht. Dann haben wir uns mit Argumenten überzeugt oder überzeugen lassen. Oder gesagt, das verschieben wir auf morgen.‟ Die Dramaturgin Beate meint: „Einfach gesagt, diesen Film lassen wir mal stehen, wir können jetzt keine Entscheidung treffen. Manchmal muss man auch erstmal über eine Sache schlafen. Oder man sieht noch einen anderen Film, so dass man besser vergleichen kann.‟ Der Filmemacher Robert Scheffner ergänzt: „Manchmal kommt ein erstklassiger Film obendrauf und dann löst sich das Problem von selbst.‟
Julia Fleißig, die 2017 die Leitung des Festivals übernommen hat, sagt: „Seit ich dabei bin, habe ich es noch nicht erlebt, dass die beiden Jurys ihre Konflikte nicht selbst lösen konnten. Das ist ja das Spannende, dass die Jurymitglieder unterschiedliche Meinungen haben und innerhalb der Woche schauen müssen, auf welche Gewinnerfilme sie sich einigen können. Ich habe auch von keinem der Kinder gehört, dass sie sich überstimmt gefühlt haben.‟
Die Jury-Begründungen: Das letzte Wort von wem?
Dominieren die erfahreneren Erwachsenen, wenn es um das Formulieren der Jury-Begründungen geht? Oder dürfen erstmal die Jungjuror*innen einen Entwurf vorlegen? Gibt es eine*n Wortführer*in oder ist das ein kollektiver Prozess? In der Rückschau berichtet Julia Fleißig, dass es sehr unterschiedliche Vorgehensweisen gibt. „Auf jeden Fall machen beide Seiten das zusammen. Im optimalen Fall schreiben alle die Begründungen für die Preisvergabe gemeinsam und werten dafür ihre Notizen aus. Das Festivalteam ist mit Ausnahme der jeweiligen Jury-Betreuer*in bei diesem Prozess nicht dabei. Gerade die diesjährige Jury 8+ hat sich früh verschworen, nichts nach außen zu verraten.‟
Beate Völcker sagt einen Tag vor der entscheidenden Jurysitzung: „Wir sind sehr gut damit gefahren, die Aufgaben zu lösen, wenn sie anstehen. Das haben wir bisher gut hingekriegt. So machen wir es morgen auch. Ich stelle mir vor, dass wir unsere Argumente sammeln und das in einen Text bringen.‟ Ihr Kollege Robert Scheffner ergänzt: „Wir haben bisher jeden Tag die Filme besprochen, die wir gesehen haben. Bei den Kurzfilmen hat das am längsten gedauert, weil es einfach mehr sind. Bei der Aussprache haben alle fleißig mitgeschrieben.‟ Die Zahl der Wettbewerbsbeiträge findet er okay, merkt aber an: „Aktuell konnte man noch jeden Film ganz gut im Gedächtnis behalten, mehr sollten es aber nicht werden.‟
Eine spannende Erfahrung für beide Seiten
Einhellig bekunden die drei jungen Juror*innen, dass die ausführlichen Diskussionen nach den Filmvorführungen großen Spaß gemacht haben. „Nach jeder Diskussion habe ich ein neues Bild auf den Film bekommen, eine andere Sichtweise. Da kamen Details mal aus der Ecke hinzu, mal aus einer anderen", berichtet Maya. „Ich finde es super erfrischend‟, konstatiert Robert Scheffner. „Da treten manchmal ganz andere Blickwinkel zu Tage.‟ An die jungen Kolleg*innen gerichtet sagt er: „Ihr seid oft auch viel rigoroser mit euren Aussagen als wir.‟ Bei den Aussprachen sei auch deutlich geworden, dass kein Film dabei war, „den wir total schlecht fanden‟. Beate bestätigt, dass man sich in der Jury mit den unterschiedlichen Beobachtungen und Blickwinkeln hervorragend ergänze.
Die Festivalleiterin ist sehr angetan davon, dass die Erwachsenen und die Kinder „sehr viel voneinander lernen‟: „Das kriege ich jedes Jahr mit. Es sind auch die Erwachsenen, die nach sieben Tagen sagen: Krass, was ich von hier mitnehme.‟
2022 zeichnete die Jury 8+ den kanadischen Animationsfilm „Dounia & The Princess of Aleppo‟ als besten Langfilm aus und „Black Rainbow‟ aus den Philippinen als besten Kurzfilm. Die Jury 13+ vergab den Preis für den besten Langfilm an das kanadische Jugenddrama „Falcon Lake‟, gab den Preis für den besten Kurzfilm an „Harta‟ aus Spanien und erkannte den Preis für eine außergewöhnliche cineastische Leistung dem belgischen Spielfilm „Playground‟ zu.