Festivals | | von Stefan Stiletto
Flüchtige Begegnungen und Filme ohne Schleifen
Unsere Pinnwand zum Filmfestival Lucas 2025
Junge Cinephile, entfesselte Kameras, Filme mit Vampiren auf der Leinwand und blutverschmierte junge Besucher*innen vor der Leinwand – all das und noch mehr gab’s in diesem Jahr beim Frankfurter Kinder- und Jugendfilmfestival. Und bevor Sie fragen: Ja, tatsächlich alle unsere Autor*innen sitzen auch in den Auswahlgremien für die Lang- und Kurzfilme von Lucas. Wir sind trotzdem mit offenen Augen und Ohren durchs Festival geschlendert. Notizen, Beobachtungen und Gedanken von Stefan Stiletto, Kirsten Taylor, Holger Twele und Rochus Wolff.
Ein flüchtiges Unterfangen
(von Stefan Stiletto)
„Gehen Sie ins Kino“, lädt die Festivalleiterin Julia Fleißig am Ende ihrer Rede bei der Festivaleröffnung ein. „Möglicherweise sehen Sie diese Filme in Frankfurt nie wieder.“ Es ist leider so wahr. Da gibt es so einige Filme im Programm, denen man ein großes Publikum wünscht – erst recht direkt aus der Zielgruppe, für die sie gemacht sind. Und man weiß zugleich, dass viele von ihnen es nie finden werden, weil sie nach den wenigen Festivalaufführungen einfach verschwinden. Dazu passt dann auch die schöne Frage eines Kindes bei der Weltpremiere des Kurzfilms „Making Love“ (Ventsislav Sariev, 2025) am folgenden Tag an die anwesenden Filmemacher*innen: „Werden Sie jetzt berühmt?“ Die Antwort beginnt mit einem herzlichen Lachen. Es könnte so schön sein: Kinderkurzfilm gedreht. Star geworden. Vielleicht sogar reich. Aber mit Kinder- und Jugendfilmen wird man eben nicht berühmt. Sie bleiben ein flüchtiges Unterfangen, auch wenn sie ihr Publikum für einen kurzen Moment sehr glücklich machen können.
Faszinierend nah
(Von Holger Twele)
Vermutlich wird der Spielfilm „Olmo“ (2025) von Fernando Eimbcke nie seinen Weg in die deutschen Kinos finden. Dennoch gehört er zu den herausragenden Beiträgen im Lucas-Wettbewerb Teens. Das Coming-of-Age-Kammerspiel über den schüchternen 14-jährigen Olmo beginnt mit einem feuchten Traum über die gleichaltrige Nachbarstochter. Doch gleich in der nächsten Szene kommt der Film zu seinem eigentlichen Thema. Olmos Vater hat Multiple Sklerose, liegt in einer engen Mietwohnung im Bett, ist schwer pflegebedürftig und selbst beim Wasserlassen auf fremde Hilfe angewiesen. Olmo fühlt sich von dieser Aufgabe völlig überfordert, zumal er ständig vom Vater kritisiert wird. So endet die Bewährungsprobe für den Jungen beinahe im Fiasko, als die Mutter zur Arbeit muss und die ältere Schwester eine Auszeit beansprucht. Zudem wurde Olmo mit seinem Freund von der Nachbarstochter unverhofft auf eine Party eingeladen. Was diesen Film so besonders macht, ist die Leichtigkeit, mit der die Pflegebedürftigkeit des Vaters aus Olmos Perspektive ohne Voyeurismus und mit subtilem Humor detailreich ins Bild gesetzt wird. Bis auf zwei Ausflüge mit einem defekten Auto spielt sich alles in der Behausung der Familie ab, mit zunehmender Empathie für alle Familienmitglieder. Bei kleinen und großen Tragödien, bei überraschenden Wendungen sind wir hautnah dabei. Unterhaltung und Tiefgang bei einem so schwierigen und oft tabuisierten Thema zu verbinden, ist wahre Kunst.
Ganz unterschiedliche Lebenswelten
(Von Holger Twele)
Viele Kinderfilme aus Europa sind immer noch im bürgerlichen Milieu angesiedelt, wie etwa der überaus gelungene und preisgekrönte „Aus Versehen Bestseller“ (2025) von Nóra Lakos im Wettbewerb Kids, in dem die aufgeweckte Nina mithilfe des Schreibens ihre Trauer um die verstorbene Mutter überwindet. Ganz anders wächst die zwölfjährige Olivia in dem Stop-Motion-Animationsfilm „Olivia und das unsichtbare Erdbeben“ (2025) von Irene Iborra Rizo auf. Als Olivias arbeitsloser Mutter nach monatelangem Mietverzug die Wohnung fristlos gekündigt wird, fühlt sich das für Olivia wie ein Erdbeben an. Trotzdem will sie ihren jüngeren Bruder mit einer Lüge vor der harten Realität schützen. Während ihre Mutter in Depressionen versinkt, lernt Olivia in einem von Aktivist*innen besetzten alten Haus viele neue Freund*innen und Menschen aus verschiedenen Ländern kennen, die genauso arm sind wie ihre Familie. Aber sie alle wissen sich und anderen zu helfen, haben ihren Mut nicht verloren und solidarisieren sich gegen soziale Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Ausgrenzung. Ein berührender Film, der kindgerecht für Probleme und Menschen sensibilisiert, die unverschuldet in eine Notlage geraten sind.
Geplünderte Kühlschränke
(von Kirsten Taylor)
Junge Filmfans aus Europa und ihre Idee von Kino – das sind die Young European Cinephiles, die schon lange zum Lucas Filmfestival dazu gehören. Die Idee: Sechs junge Leute – in diesem Jahr aus Bulgarien, Griechenland und Deutschland – suchen zu einem ausgewählten Thema drei Filme aus. Dieses Mal sollte sich die Filmreihe thematisch ums „Wachsen“ drehen und war somit ganz nah dran an der aktuellen Lebensaufgabe der 17- bis 20-jährigen Kurator*innen. Wie wird man zu dem Menschen, der man ist oder sein möchte? Wie geht man mit Enttäuschungen um? Wie wird man groß, wenn man nicht in vorgestanzte Schablonen passt? Es ist immer wieder spannend, wie sich die jungen Leute dem jeweiligen Thema nähern und welche Filme sie zu ihren Fragen finden. Und so präsentierten die YECs, wie sie im Lucas-Jargon genannt werden, neben den zwei Wiedersehen-Filmen „Persepolis“ (Vincent Paronnaud, Marjane Satrapi, 2007) und „Der Junge und die Welt“ (Alê Abreu, 2013) auch die schön schräge und schwarze Komödie „Feinfühlige Vampirin sucht lebensmüdes Opfer“ von Ariane Louis-Seize (2023), mit dem die Filmreihe eröffnet wurde. Im Mittelpunkt des kanadischen Films steht Sasha, eine Vampirin mit einem Problem. Sie braucht Menschenblut, aber sie ist nicht imstande, jemanden zu töten. Aber dann trifft sie auf Paul, der genug vom Leben, dem Mobbing in der Schule, dem Unverständnis dieser Welt hat – und plötzlich sind da zwei, die sich verstehen. Schöner kann man kaum erzählen, wie hart – und schön – das Leben als Teenie sein kann. Das ist alles zart, humorvoll, tiefsinnig, überraschend und oft sehr auf den Punkt erzählt, zumal eben auch Sasha ein ganz normaler Teenager ist: „Das Blut ist schon wieder alle“, sagt sie einmal, als sie sich den letzten Blutbeutel aus dem Kühlschrank holt, sich in den Sessel fläzt und ihn lautstark mit einem Strohhalm leer schlürft. Da ist man plötzlich gleich bei der Mutter, die genervt ist angesichts ihrer renitenten Tochter. Sie muss wieder los, Nachschub besorgen, aber frisches Blut gibt es eben nicht im Supermarkt um die Ecke.
Filme mit Biss
(von Stefan Stiletto)
Gäbe es einen Preis für den besten Filmtitel, dann hätte ihn dieser verdient: „Humanist Vampire Seeking Consenting Suicidal Person“, auf deutsch nicht ganz so woke übersetzt als „Feinfühlige Vampirin sucht lebensmüdes Opfer“. Ein aberwitziger Vampirfilm, der mal wieder deutlich macht, wie gut Horror- und Coming-of-Age-Motive zusammenpassen. Und der unweigerlich auch Erinnerungen an den thematisch ganz ähnlichen, aber tonal ganz anders gelagerten „So finster die Nacht“ (Tomas Alfredson, 2008) wachruft. Oder an den Kurzfilm „Zähneputzen“ von Yannick Horn, der im vergangenen Jahr beim Bundes.Festival.Film. lief und über eine Jugendliche erzählt, die eines morgens vor dem Spiegel entdeckt, dass sie Vampirzähne bekommen hat. Ein toller Film über eine Identitätskrise, Irritationen, Ablösungsprozesse und den Versuch, seinen eigenen Weg zu gehen. Ach, wie schön wäre hier ein Double Feature mit der humanistischen Vampirin gewesen! Zumal Yannick ja ohnehin im Publikum saß, war er dieses Jahr doch Mitglied der Youngsters-Jury von Lucas.
Ins Kino gegangen, geohrfeigt worden
(von Rochus Wolff)
Am Festivalsonntag ist das Deutsche Filminstitut & Filmmuseum (DFF) rappelvoll. Auf mehreren Etagen gibt es zusätzlich zu den Filmvorführungen noch kostenlose Workshops, Vorführungen und Bastelecken. Im Foyer drehen Kinder unter Anleitung eine Plansequenz, die an die Koffertausch-Sequenzen aus Peter Boganovichs „Is’ was, Doc?“ (1972) erinnert. Ein Stockwerk drüber hat Stuntfrau Katrin Gärtner blaue Matten ausgelegt und zeigt geduldig, wie man sich verprügelt, ohne sich zu berühren oder gar zu verletzen. Sie verteilt eine Ohrfeige und wird zum Dank in den Bauch geboxt. Ihr junger Sparringspartner hat vom Blutigschminken im Erdgeschoss die linke Gesichtshälfte in rot getaucht – das passt.
Entfesselt
(von Stefan Stiletto)
Seit Monaten gibt es im DFF eine sehr sehenswerte und ausschließlich auf Filmausschnitte beschränkte Ausstellung: „Entfesselte Bilder“ – ein ungemein spannender Ritt durch die Filmgeschichte der Plansequenzen und langen Kamerafahrten. Auch aus dem Jugendkino sind ein paar Beispiele darunter. Die Schulszene aus „Donnie Darko“ (Richard Kelly, 2001) etwa – Sie wissen schon, die zu „Head over Heels“ von den Talking Heads –, oder die Schlussszene aus „Sie küssten und sie schlugen ihn“ (François Truffaut, 1959). Aus dem Kinderfilmsegment ist dafür nur eine CGI-generierte Szene aus „Die Abenteuer von Tim und Struppi“ (Steven Spielberg, 2011) zu sehen. Gibt es denn keine langen Kamerafahrten in Kinderfilmen? Gute Frage. Ebenfalls CGI-generiert wäre da der tolle Anfang aus „Hugo Cabret“ (Martin Scorsese, 2011) oder das Eintauchen in das Pop-up-Buch aus „Paddington 2“ (Paul King, 2017). In Animationsfilmen fällt einem die Geisterrundumfahrt aus „ParaNorman“ (Chris Butler, 2011) ein. Vielleicht sollte das mal jemand in einem Besonderen Kinderfilm mit echten Schauspieler*innen ausprobieren. Das Lucas-Festival hat jedenfalls schon mal vorgefühlt: Am Familiensonntag wurde im Foyer eifrig mit zahlreichen Schauspieler*innen an einer langen Szene experimentiert, während vor dem Haus mit einem Kamerakran gewerkelt wurde. Wie schön!
Enden ohne Schleifen
(von Rochus Wolff)
Das Filmprogramm für ein Festival wächst schrittweise, mit oft unerwarteten Strängen und Zweigen – und manche Eigenheiten fallen erst im Nachhinein auf. Im Teens-Programm von Lucas zum Beispiel geht es nicht nur anhand von durchaus schwierigen Themen um Wachstum und Entwicklung – Filme wie „Olmo“ (Fernando Eimbcke, 2025) und „Wild Foxes“ (Valéry Carnoy, 2025) nehmen die Themen auch dadurch noch einmal auf, dass sie nicht alles zu Ende erzählen, dass sie darauf verzichten, vor dem Abspann an alle Handlungsstränge eine hübsche Schleife zu machen. Wie es mit Olmos Mutter und ihrem Arbeitskollegen weitergeht? Was da überhaupt los ist? Muss man sich ausmalen. Wie es zwischen den einstmals besten Freunden Camille und Matteo weitergeht? Das muss die Zukunft zeigen, nicht der Film.
