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Festivals | | von Barbara Felsmann

Filmbildung mit Abstand

DOK.education hat 2020 mit seinem Online-Filmbildungsangebot Neuland betreten

Das DOK.fest München hat aus der Not eine Tugend gemacht: Anstatt die Bildungsprogramme während der Corona-Pandemie pausieren zu lassen, hat das DOK.education-Organisationsteam in kürzester Zeit ein bemerkenswertes filmpädagogisches Online-Angebot auf die Beine gestellt, das mehr als eine bloße Verlegenheitslösung war – und das Festivalsegment zudem für das junge Publikum weit über die Stadtgrenzen Münchens geöffnet hat.

DOK.education@home (c) DOK.fest München

Knapp zwei Monate Zeit hatte das Team des DOK.fest München, eines der größten internationalen Dokumentarfilmfestivals in Deutschland, um während der Corona-Krise eine Online-Ausgabe zu entwickeln. Ebenso das Team von DOK.education, dem Bereich Filmbildung beim Festival, der seit 2013 von der diplomierten Filmemacherin Maya Reichert geleitet wird. Eine Herausforderung für alle Beteiligten, wie Maya Reichert meint: „Wir hatten ja nicht nur die plötzliche Umstellung auf online, sondern mussten auch alles von zuhause aus organisieren und umsetzen. Und parallel dazu die eigenen Kinder betreuen.“

DOK.education umfasst die „Schule des Sehens“, den Jugendfilmwettbewerb sowie die Praxisworkshops und Fortbildungen für Jugendliche und Lehrkräfte. Dabei ist die „Schule des Sehens“ sozusagen das Herzstück des Bereichs Filmbildung. Gewöhnlich findet diese Dokumentarfilmschule während des Festivals im Kino statt, wo in 90-minütigen moderierten Workshops jeweils zwei Schulklassen mit den Filmemacher*innen ins Gespräch kommen und sich kreativ mit dem Seherlebnis auseinandersetzen. Unter den Lockdown-Bedingungen in diesem Jahr entwickelte das Team eine digitale Variante, und zwar drei verschiedene Webinare von jeweils einer Stunde.

DOK.education@home 2020

Die Online-Seminare richteten sich an unterschiedliche Altersgruppen. Für die 1. bis 4. Klassenstufe wurde ein Webinar mit dem niederländischen Kurzdokumentarfilm „Unsere Insel‟ von Lennah Koster angeboten, in dem es um eine enge Beziehung zwischen zwei sehr unterschiedlichen Schwestern geht. Das Webinar für die 5. bis 10. Klasse drehte sich um den 16-minütigen Dokumentarfilm „Champ‟, ebenfalls aus den Niederlanden. Hier porträtiert die Regisseurin Cassandra Offenberg die 14-jährige Kickboxerin Esma, die den Sport wie auch die Sorge um ihre schwerkranke Mutter unter einen Hut bringen muss. Für Schüler*innen der 10. bis 12. Klasse wurde die halbstündige deutsche Produktion „Dazwischen Elsa‟ von Katharina Pethke und Christoph Rohrscheidt ausgewählt, in dem die Schwierigkeiten der jungen Protagonistin Elsa aufgezeigt werden, sich nach der Schule für eine Ausbildung und damit für einen Beruf zu entscheiden.

In allen drei Online-Versionen der „Schule des Sehens“ wurde innerhalb der 60 Minuten nach einer kurzen Einführung zum Dokumentarfilm der jeweilige Film gezeigt und nach einem anschließenden Videointerview mit den Filmemacher*innen Fragen gestellt und Anregungen gegeben zu einer direkten Auseinandersetzung mit beziehungsweise Analyse des Gesehenen. Zu den Online-Seminaren wurden für die Nachbereitung beim Homeschooling Arbeitsblätter für die Schüler*innen sowie ausführliches Begleitmaterial für die Lehrer*innen bereitgestellt. Im Gegensatz zu den Präsenzseminaren war die Online-Dokumentarfilmschule gegen eine Spende beziehungsweise kostenfrei erhältlich.

Ein aufschlussreiches moderiertes Filmbildungspaket

Gleich zu Beginn der Unterrichtseinheit für Zuhause zu „Champ‟ erhielten die Schüler*innen zwei interessante Beobachtungsaufgaben zum Einsatz der Musik sowie zur ersten und letzten Einstellung. Nach dem Film stellte Moderatorin Maya Reichert, die als Moderatorin und Interviewerin durch das Webinar führte und die Schüler*innen vor dem Bildschirm direkt ansprach, vier „Jokerfragen“, bei denen die Schüler*innen jeweils drei Antworten zur Auswahl hatten: Wie viele Drehtage brauchte die Regisseurin? Wie viele Stunden Filmmaterial wurden gedreht? Wie viele Tage hat die Regisseurin mit dem Editor gearbeitet? Wie viele Leute gehörten beim Dreh zum Filmteam? Die Fragen wurden sofort beantwortet und dabei immer auf die besonderen Entstehungsbedingungen von Dokumentarfilmen eingegangen. Es folgte ein Videotelefonat mit Cassandra Offenberg über fast 25 Minuten, das deutsch eingesprochen wurde. Anschließend wurde die Wettkampfszene aus dem Dokumentarfilm noch einmal wiederholt mit der Aufgabe, darauf zu achten, wie Spannung aufgebaut und der Ton gestaltet wurde.

Dok.education@home (c) DOK.fest München

Chancen und Grenzen der Online-Dokumentarfilmschule

Die drei Online-Angebote hatten – neben spannenden Fragen und Anregungen – eine bemerkenswert frische und natürliche, aber keinesfalls kindertümelnde oder gar anbiedernde Ansprechhaltung. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Kinder und Jugendlichen trotz der Einsamkeit bei der „Home“-Sichtung bis zum Schluss dabeigeblieben sind. Was dabei notgedrungen fehlt, ist die besondere Festival-Atmosphäre und die Interaktion. Die Schüler*innen können sich nicht im Gespräch untereinander anregen und vor allen Dingen gibt es für die Sehaufgaben keine Auflösung und damit keine Möglichkeit der eigenen Überprüfung. So ist eine Nachbereitung durch die Lehrer*innen für dieses Projekt – meiner Meinung nach – dringend erforderlich.

Wunderbar ist es, dass die Filmleute und Interviewpartner*innen, die ja beim DOK.fest aus aller Welt kommen, für die Online-Variante unkompliziert für ein Gespräch zur Verfügung stehen, was ja bei einem physischen Festival nicht immer gewährleistet werden kann. Auch können die Videointerviews ausführlicher und damit tiefgehender gestaltet werden. Vor allem aber besteht durch die Online-„Schule des Sehens“ die Möglichkeit, wesentlich mehr Kinder und Jugendliche zu erreichen, eben auch außerhalb von München und Bayern. Das hatte sich bereits bei der diesjährigen Ausgabe des Festivals bemerkbar gemacht. Über 300 Lehrer*innen hatten im Mai ein Webinar für ihren Unterricht angefragt und über 3.000 Schüler*innen haben die drei Ausgaben der Dokumentarfilmschule während des Festivals gesehen!

Die äußerst positiven Rückmeldungen der Lehrkräfte und Schüler*innen zeigen, dass derartige Online-Angebote die Filmbildung wertvoll erweitern können. Aber trotzdem: „Digital vorbereiteter Unterricht kann niemals so individuell reagieren und berühren wie das persönliche Gespräch und die interaktive Bewegung im Raum“, meint Maya Reichert. „Wir fühlen uns bestätigt, dass das Dunkel des Kinos die Filmrezeption verändert“. Man kann also gespannt sein auf DOK.education 2021 – (hoffentlich) mit vielen Erlebnissen vor Ort im Kino, aber auch sicher wieder außerhalb Münchens vor den Bildschirmen.

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