Artikel > Festivals

Festivals | | von Holger Twele

Far away

Kinder- und Jugendfilme bei den Nordischen Filmtagen 2018

Espen und die Legende vom Bergkönig (EuroVideo)

Direkt oder indirekt sind Filme auch ein Spiegel der Gesellschaft. Das gilt in besonderer Weise bei Familienkonstellationen im Kinder- und Jugendfilmbereich. Schließlich sind die Eltern die ersten und wichtigsten Bezugspersonen im Leben eines Kindes. In fast allen, thematisch ansonsten breit aufgestellten Filmen der Sektion „Kinder- und Jugendfilme“ der 60. Nordischen Filmtage in Lübeck spielen Väter eine eher untergeordnete oder zumindest fragwürdige Rolle. Entweder tauchen sie gar nicht erst auf oder sie sind im englischen Wortsinn „far away“ – weit weg. Da passt es exakt, dass „far“ in mehreren skandinavischen Sprachen „Vater“ bedeutet. Mütter sind dann folgerichtig meistens alleinerziehend und überfordert oder sie sind bereits gestorben, verschollen, zumindest schwer erkrankt. Mit anderen Worten: Kinder und Jugendliche sind in der Dramaturgie all dieser Filme weitgehend auf sich alleine gestellt, unabhängig davon, ob es sich um eher historische Stoffe, Fantasyfilme oder Dramen handelt. Als Vorbilder taugen Väter (und Mütter) schon lange nicht mehr und völlig intakte Familien scheint es in skandinavischen Filmen ohnehin nicht (mehr) zu geben.

Abwesende Väter

Bei den beiden schwedischen Jugendfilmen im Programm ist es noch am ehesten nachvollziehbar, wenn Väter und Mütter unwichtig sind, denn an der Schwelle zum Erwachsenwerden geben Peer Groups und Freundschaften den Ton an. Gleichwohl überrascht es, dass sich „Abgebrannt“ von Nikeisha Andersson ausschließlich auf die beiden Protagonistinnen konzentriert, die ständig in Geldnot sind, von einem unbeschwerten Leben träumen und sich einen reichen Typ angeln, der sie letztlich nur als „Ghettoschlampen“ sieht. Und im Drama „Das Herz“ von Fanni Metelius, die darin selbst die Hauptrolle übernommen hat und ihre eigenen Erfahrungen mit einer gescheiterten Liebesbeziehung verarbeitete, spielen kurze Szenen zwar im Elternhaus des Mädchens, aber der familiäre Hintergrund des Jungen und damit auch mögliche Erklärungen für sein sonderbares Verhalten der Geliebten gegenüber bleiben völlig im Dunkeln.

Leicht nachvollziehbar ist die Abwesenheit des Vaters und der Mutter bei zwei sehr einfühlsam erzählten Filmen, die ganz aus der Perspektive von Kindern in die Vergangenheit zurückblicken. In „Sommerkinder“, der in Lübeck mit dem Kinder- und Jugendfilmpreis ausgezeichnet wurde, erinnert Gudrún Ragnarsdóttir an die 1950er-Jahre in Island, als Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen mindestens einen Sommer lang in abgelegene Heime gesteckt wurden, wo sie der Willkür und dem Missbrauch des Personals schutzlos ausgeliefert waren und auch Inklusion von Behinderten noch ein Fremdwort war. Diese Erfahrungen machten auch die sechsjährige Eydís und ihr jüngerer Bruder, nachdem der Vater die Mutter krankenhausreif geschlagen hat. Mit der ganzen Kraft ihrer Fantasie, durch die sie selbst Tote wieder zum Leben erwecken können, überstehen die Geschwister die nicht enden wollenden Schikanen und machen sich schließlich heimlich auf den Weg, um ihre Mutter wiederzufinden. – Weil sich die Eltern trennen wollen, werden in „Paradies ’89“ von Madare Dišlere im Sommer zwei Schwestern zu ihren Cousinen aufs Land geschickt. Weitgehend sich selbst überlassen erleben die vier Mädchen Gefühle von Freiheit und Unabhängigkeit, werden aber zugleich in die politischen Ereignisse des Jahres 1989 hineingezogen, als Lettland um seine Unabhängigkeit von der Sowjetmacht kämpft und die Eltern in doppelter Hinsicht abwesend sind.

Von der historischen Vergangenheit, als die US-Raumsonde Voyager mit einer gespeicherten Botschaft der Menschheit ihren Flug ins Weltall antrat, in die nahe Zukunft geht es in „Allein im All“ von Ted Kjellsson. Der erste schwedische Science-Fiction-Film für Kinder, der vollständig im All spielt, überzeugte die Kinderjury so sehr, dass sie ihm ihren Preis verlieh. Schließlich greift der Film viele filmische Vorbilder auf, aber noch nie zuvor gab es eine Ausgangssituation, bei der sich ein Mädchen und ihr kleiner Bruder allein auf einem riesigen Raumschiff befinden. Dieses wird vollautomatisch von einem sprechenden Computer gesteuert, um nach einer mehrjährigen Reise auf einem fernen Planeten zu landen. Die Erde musste evakuiert werden und nur wenige Menschen waren auserwählt, diese Reise anzutreten. Mit einem Trick gelang es der alleinerziehenden Mutter der beiden Kinder, sich ins Raumschiff zu schmuggeln, den Startknopf zu drücken und den gesamten Rest der Menschheit einfach mal schnell hinter sich zu lassen. Unterwegs geht die Mutter dann verloren, was Anlass für einen zweiten Teil der Geschichte geben dürfte. Zunächst aber dringt ein Außerirdischer ins Raumschiff ein, der die beiden Kinder eigentlich eliminieren sollte, aber schon bald fast väterliche Gefühle für sie entwickelt.

Ambivalente Vaterfiguren

Mikkel Brænne Sandemose, der für seinen so unterhaltsamen wie actionreichen Fantasyfilm „Espen und die Legende vom Bergkönig“ eine Lobende Erwähnung der Kinderjury erhielt, greift lieber auf die Mythen und Legenden seiner norwegischen Heimat zurück. Ein riesiger Troll hat die junge Prinzessin des Königreichs entführt und wer sie rettet, bekommt das halbe Königreich und die widerspenstige Prinzessin obendrein, so hat es der König entschieden. Ein fieser Ritter, der nur an Geld und Macht interessiert ist, und ein reichlich ungeschickter Tagträumer, der vom Vater verstoßen wurde, nachdem er den Bauernhof versehentlich in Schutt und Asche gelegt hat, sowie seine beiden älteren Brüder nehmen die Herausforderung an. Natürlich siegt am Ende das Gute und der Vater ist versöhnt mit dem, was der junge Tunichtgut ihm nach der Reise mitgebracht hat.

Weitaus schwerer hat es da der alleinerziehende Vater des Mannschaftskapitäns einer Jugendfußballmannschaft in dem isländischen Film „Die Falken“ von Bragi þór Hinriksson. Denn der vom eigenen Leben tief enttäuschte Alkoholkranke prügelt seinen Sohn regelrecht zum stellvertretend erhofften Erfolg – bis ausgerechnet der ärgste Widersacher aus der gegnerischen Fußballmannschaft den Ernst der Lage erkennt und seinen neuen Freund vor dem gewalttätigen Vater retten möchte. Fußballfilme haben es oft leicht, die Gunst des Publikums zu gewinnen und wenn mitten im Endspiel dann noch ein Vulkan ausbricht, wie es vor einigen Jahren tatsächlich in Island geschah, gewinnt das an pittoresker Dramatik – selbst wenn nun alle heroischen jungen Spieler giftigen Dämpfen ausgesetzt sind.

Die isländische Regisseurin und dffb-Absolventin Maria Solrun hat ihren Film „Adam“ über einen gehörlosen 20-jährigen Jugendlichen in Deutschland gedreht. Während Adam sich zum ersten Mal richtig verliebt, sieht er sich durch seine zum Pflegefall gewordene Mutter vor eine schwere Entscheidung gestellt, bei dem sich der Vater, den er bisher nicht kannte, tatsächlich als Niete erweist. Exzessiver Alkoholkonsum haben bei der Mutter zu irreparablen Hirnschäden geführt, die zuvor nur einen Wunsch hatte, den er ihr erfüllen müsse, wenn die einstige Musikerin in ein Heim käme: Nur wie und auf welche Weise genau soll man die eigene Mutter umbringen?

Auf der Suche nach dem Vater

Auch jenseits des Kinder- und Jugendprogramms wurde die Suche nach dem Vater in zwei Wettbewerbsfilmen gar zum handlungstragenden Moment. Im dänischen Animationsfilm „Vitello“ von Dorte Bengtson nach den erfolgreichen Bilderbüchern von Kim Fopz Aakeson setzt sich ein kleiner Junge sein Bild vom Vater, den die Mutter immer nur als Schuft bezeichnet, als Bildcollage zusammen, bis er akzeptiert, dass der Nachbar wenigstens als Stiefvater gar nicht so übel ist. Schade nur, dass die sehr einfach gestrickte Animation mit den lustigen Streichen des frechen Jungen nicht mithalten kann, der nebenbei entdeckt, dass auch Mädchen als Spielkameradinnen „taugen“.

Gustav war zehn Jahre alt, als der Vater plötzlich spurlos aus dem Leben der Familie verschwand. Seitdem ist der inzwischen 20-Jährige fest davon überzeugt, dass das Verschwinden des Vaters mit einem Kometen zu tun hatte, der sich nun erneut der Erde nähert. Der Norweger Bård Røssevold erzählt in seinem mitunter etwas bemüht wirkenden Film „Der Komet“ vom schmerzhaften Reifungsprozess eines Jugendlichen, der am Ende erfahren muss, wer sein Vater wirklich war. Denn er hatte Gustav und seine Mutter verlassen, um seine Vorstellungen eines komfortablen Lebens mit einer anderen Familie realisieren zu können.

Ein Blick über den europäischen Tellerrand

Das Faktum, dass das diesjährige Kinder- und Jugend-Programm zumindest hinter der Kamera paritätisch mit Werken von weiblichen und männlichen Filmschaffenden bestückt war, ist leider noch kein Garant dafür, dass bald andere Stoffe geschrieben werden, in denen Väter und Mütter nicht ständig überfordert sind oder ganz ausfallen. Mehr noch: Familienkonstellationen wie die hier vorgestellten wirken sich auf die Gesellschaft insgesamt aus. Positive Rollenbilder gibt es kaum noch. Soziologische Untersuchungen über das Fehlen identifikationsstiftender Vaterfiguren haben auf die Folgen insbesondere für die Entwicklung von Jungen, aber auch für Mädchen hingewiesen. Zumindest im Film könnte es jedoch ganz anders laufen. Dafür allerdings muss man wohl über den europäischen Tellerrand hinausblicken – beispielsweise nach Japan. Der diesjährige Cannes-Preisträger „Shoplifters“ von Hirokazu Kore-eda über eine nicht einmal blutsverwandte Patchworkfamilie etwa zeigt, dass sich Familie auch völlig neu definieren lässt und Männer sehr wohl in der Lage sind, Verantwortung für eigene und fremde Kinder zu übernehmen.

Zurück