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Festivals | | von Holger Twele

Erziehung – Macht – Missbrauch

Filmfest München 2022

Die mexikanisch-polnische Koproduktion „The Hole in the Fence‟ war eine Entdeckung beim Filmfest München 2022. Der Film erzählt über erzieherische und ideologische Manipulation, weckt Erinnerungen an „Herr der Fliegen‟ und neuere Filme wie „Freistatt‟ oder „Kreuzweg‟ – und regt dazu an, sich mit dem Themenkomplex Machtmissbrauch auseinanderzusetzen.

Filmbild: The Hole in the Fence
"The Hole in the Fence" Quelle: Filmfest München

Es wäre schlecht bestellt um die Zukunft des Kinos, wenn sich auf einem Filmfestival nicht immer wieder Entdeckungen machen ließen, die in formaler oder thematischer Hinsicht für Überraschungen sorgen. Unter diesen Filmen stechen solche besonders hervor, die nachhaltig beeindrucken und eine Fülle von Assoziationen und weiterführenden Gedanken auslösen. Das gilt natürlich auch für den international (noch) breit aufgestellten Kinder- und Jugendfilmbereich. Zu diesen Filmen gehört für mich die mexikanisch-polnische Produktion „ The Hole in the Fence“ von Joaquín del Paso, die ihre Premiere in Venedig 2021 erlebte und nun auf dem Filmfest München 2022 zu sehen war. Es ist der zweite Film des mexikanischen Regisseurs, der an der polnischen Filmschule in Lodz studiert hatte.

Kommt die Bedrohung wirklich von außen? Oder liegt sie in Wahrheit im Inneren?

In einem abgelegenen Sommercamp im mexikanischen Hochland werden die 13-jährigen Schüler einer angesehenen Privatschule unter den wachsamen Augen ihrer „Beschützer“ physisch, moralisch und religiös auf ihre Aufgabe vorbereitet, die zukünftige Elite des Landes zu bilden. Als die Jungen ein Loch in dem hohen Zaun entdecken, der das Camp nahezu hermetisch von der Außenwelt abriegelt, führt das bei den Jungen zu einer Art Massenhysterie, wobei die jenseits des Zaunes lebende indigene Bevölkerung zur lebensbedrohlichen Gefahr hochstilisiert wird und das soziale Gefüge unter den Schülern auseinanderzubrechen droht. Die Erwachsenen ihrerseits schüren bewusst die Ängste ihrer Schutzbefohlenen und manipulieren sie auf vielfältige Weise. Schon bald ist nicht mehr abzusehen, ob die Bedrohung durch das Loch von außen kommt oder von innen, und das Loch im Zaun auch die Flucht in die ersehnte Freiheit bedeuten könnte. Dramaturgisch geschickt wird sogar das Filmpublikum in diesen Strudel von beginnender Orientierungslosigkeit, theatralischer Inszenierung und verzweifelter Sinnsuche einbezogen. Ganz offensichtlich wird hier der wehrloseste Junge, der auf Krücken läuft und auch noch bandagiert ist, sexuell missbraucht. Und im weiteren Verlauf des Films geschehen wohl auch zwei Morde. Direkt im Bild zu sehen ist jedoch keiner dieser tragischen Vorfälle. Sind sie also Realität oder werden wir hier selbst manipuliert und bilden wir uns das nur durch entsprechende Vorerfahrungen und Sensibilisierungen ein?

Ideologische Verstrickungen

Dieser mit 13-jährigen Laiendarstellern gedrehte Film hinterlässt zusammen mit der Kameraarbeit und der musikalischen Begleitung einen so starken Eindruck sicher auch deswegen, weil der Regisseur drei Monate lang vor den siebenwöchigen Dreharbeiten in einem echten Schulcamp mit den Darstellern intensiv geprobt hat. Für eine Filmproduktion ist das eher die Ausnahme. Und mehr noch: Der Film ist realen Erlebnissen nachempfunden. Joaquín del Paso hatte mehrere Jahre eine ähnliche Schule der kirchlichen Organisation Opus Dei besucht und dort harte Bestrafungen und psychologische Manipulationen erfahren. Rückblickend empfindet er diese Zeit als „Abhärtungstraining“, durch das die Kinder lernen sollten, rücksichtslos und ohne Empathie für andere zu werden. Mit seinem Thriller möchte er das elitäre Erziehungssystem in Mexiko kritisieren, das seiner Überzeugung nach die soziale Spaltung der Gesellschaft vorantreibt. Zugleich betont er, dass erzieherische und ideologische Manipulationen überall auf der Welt zu finden sind. Man denke nur an die Skandale in deutschen Erziehungsheimen (nacherzählt beispielsweise in „Freistatt“ von Marc Brummund, 2015) oder an das bis zur Ermordung führende Unrecht, das indigenen Kindern etwa in Australien oder in Kanada angetan worden ist. Derartige Erziehungspraktiken, die immer auch mit elitärem Denken, Ausgrenzung von Minderheiten, Machtansprüchen und Rassismus verbunden sind – und nicht selten auch mit sexuellem Missbrauch – beschränken sich selbstverständlich nicht auf die Amtskirche und auch nicht auf die christlichen Weltreligionen. Sie sind genauso im nicht immer ausschließlich religiös motivierten Sektenwesen verbreitet, wie exemplarisch der Thriller „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ von Florian Gallenberger aus dem Jahr 2015 zeigt. Der Film erzählt eine fiktive Geschichte vor dem Hintergrund der gleichnamigen realen deutschen Sekte, die 1961 von dem Laienprediger Paul Schäfer gegründet wurde, in Chile eine hermetisch von der Außenwelt abgeschnittene Siedlung aufbaute und deren Anhänger*innen, darunter auch viele Kinder und Jugendliche, unterdrückte, missbrauchte und folterte und mit der Militärdiktatur des Landes gemeinsame Sache machte.

Bezüge zu einem Jugendfilmklassiker und zu mehreren aktuellen Produktionen

In seiner optischen Gestaltung verweist del Pasos Film unverkennbar an den Kinder- und Jugendfilmklassiker „Herr der Fliegen“ aus dem Jahr 1963 von Peter Brook nach dem gleichnamigen Roman von William Golding sowie dessen Remake von Harry Hook aus dem Jahr 1990. In diesem Film stranden sechs- bis zwölfjährige Jungen nach einem Flugzeugabsturz auf einer unbewohnten Insel im Pazifik und spalten sich in zwei Gruppen, die sich bis aufs Blut bekämpfen. Hier fehlen zwar die Erwachsenen vor Ort, gleichwohl stammen alle Kinder aus dem gleichen elitären Internat. Von der FSK wurde dieser Film übrigens seinerzeit ab 12 Jahren freigegeben – ein deutlicher Hinweis darauf, dass ältere Kinder mit einer solchen Thematik durchaus bereits konfrontiert werden können und sollten.

Interessanterweise hat sich vor allem das deutsche Kino in den letzten Jahren häufig mit der Thematik erzieherischer und ideologischer Manipulationen und ihrer Folgen für junge Menschen auseinandergesetzt. Entsprechende Filme in Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus wie etwa „Napola“ (Dennis Gansel, 2004) seien an dieser Stelle ausgeklammert. Zu erwähnen sind der bereits 1994 entstandene Film „Himmel und Hölle“ von Hans-Christian Schmid, der auf wahren Begebenheiten beruht. Er erzählt, wie eine 14-Jährige unter Druck gerät, weil die weltlichen Vorstellungen ihrer Mitschüler*innen unvereinbar sind mit den rigiden Glaubensregeln, die ihr von der Familie und dem Pfarrer vermittelt werden. 20 Jahre später erzählt „Kreuzweg“ (2014) von Dietrich Brüggemann die Geschichte eines Mädchens, das sein Leben ganz Jesus widmen möchte und dabei den eigenen Tod in Kauf nimmt.

Und um den Bogen noch zurück zum Filmfest München und zu einem anderen Extrem erzieherischer Manipulation zu spannen: Christopher Roth hat sich mit seiner Koautorin Jeanne Tremsal in seinem Film „Servus Papa, see you in hell“ (2022) an ein sehr zwiespältiges Kapitel österreichischer „Kulturgeschichte“ gewagt. Tremsal hatte ihre Kindheit und Jugend in der Kommune des Künstlers Otto Muehl im österreichischen Burgenland verbracht. Der Nachname taucht im Film allerdings nie auf, denn wie bei del Pasos Film geht es eher vom Grundsatz her um Ideologien, Missbrauch und strukturelle Gewalt. Im Film verkörpert Jeanne Tremsal ihre eigene Mutter. Otto herrscht über diese Kommune und sein oberster Grundsatz lautet, dass Kinder ohne ihre Eltern aufwachsen sollen und auch Zweierbeziehungen nicht erlaubt sind. Er proklamiert den freien Sex mit Minderjährigen, den er schamlos praktiziert, nur die Liebe ist nicht erlaubt. Als sich die 14-jährige Jeanne dann ernsthaft in einen 16-Jährigen verliebt, bleiben die Konflikte nicht aus. Am Ende rebellieren die Minderjährigen gegen die Kommune und gegen Otto. Auch dies ein verstörender Film, der angesichts ständig neuer Enthüllungen über Machtmissbrauch und sexuellen Missbrauch staunen macht, wie wenig die Gesellschaft noch vor wenigen Jahren dafür sensibilisiert war.

Nichts gegen unterhaltsame Filme für junge Menschen über ihre Integration beziehungsweise die wachsende Solidarität in der Schulklasse, über abenteuerliche Klassenfahrten und die erste Liebe mit 16. Aber darüber hinaus sollten junge Menschen hierzulande auf ihrem Weg ins Leben der Erwachsenen auch die Chance haben, Filme zu sehen, die genauere Einblicke in gesellschaftliche Entwicklungen und Konflikte geben – hier und anderswo. Und dafür wäre gerade „The Hole in the Fence“ gut geeignet.

Regie: Joaquín del Paso. Laufzeit: 100 Min. Buch: Joaquín del Paso , Lucy Pawlak. Kamera: Alfonso Herrera Salcedo. Schnitt: Paloma López Carillo. Musik: Michael Stein, Kyle Dixon. Ton: Guido Berenblum. Produktion: Cárcava Cine. Weltvertrieb: Wild Bunch International. Darsteller*innen: Valeria Lamm (Jordi), Yubáh Ortega (Eduardo), Lucciano Kurti (Joaqinicito), Erick Walker (Diega Peña), Jacek Poniedziałek (Professor Stuhr), Enrique Lascuráin (Professor Monteros), Takahiro Murokawa (Professor Tanak), Santiago Barajas (Santi), Charles Oppenheim (Professor Barquett) u. a.

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