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Festivals | | von Holger Twele

Erwartungen erfüllen, Erzählformen variieren

Narrative beim „Schlingel‟ 2020

Im Programm des diesjährigen Internationalen Filmfestivals für Kinder und junges Publikum „Schlingel‟ gab es bekannte Erzählformen ebenso wie außergewöhnliche Narrative. Bemerkenswert: Für die meisten Überraschungen sorgten vor allem originäre Filmstoffe, die mehr Experimente wagten.

"Die schwarze Mühle" Quelle: Internationales Filmfestival Schlingel

Warum sollte man Filmstoffe wechseln und Erzählformen verändern, wenn sie offenbar bei der Zielgruppe gut ankommen? Sobald Erwachsene in ihre Schranken verwiesen, durch Missgeschicke der Lächerlichkeit preisgegeben oder gar als einfältig und dumm gezeichnet werden, geschieht dies fast immer zur großen Freude der Kinder. Besonders beliebt sind Detektivgeschichten und Kinderkrimis, in denen die kleinen Hauptdarsteller*innen zeigen können, was wirklich in ihnen steckt. Die Vorhersehbarkeit der nicht immer logisch aufgebauten Geschichten und das klassische Happy End sind dabei sogar von Vorteil. Hauptsache, der Film ist spannend erzählt und bietet direkte Anknüpfungspunkte an die Erlebnis- und Alltagswelt von Kindern.

Es ist daher nur allzu verständlich, dass die Europäische Kinderjury beim 25. Internationalen Filmfestival für Kinder und junges Publikum „Schlingel‟ ihren Preis an den polnischen Film „Ärger hoch drei“ (2020) von Marta Karwowska vergeben hat. Zwei Mädchen und einem Jungen gelingt es, einen spektakulären Kunstraub aufzudecken. Ihre Freundschaft wird dabei durch Eifersucht auf eine harte Probe gestellt. Die deutsche Kinderjury wiederum vergab eine Lobende Erwähnung an „LasseMaja und das Geheimnis des Zugräubers“ (Moa Gammel, 2020), eine Detektivgeschichte, die einer schon zigfach verfilmten schwedischen Buchserie eine weitere Verfilmung ganz im Stil der angestaubten Vorlage hinzufügt. Das Spektrum an Narrativen im Kinderfilm ist damit zum Glück aber noch lange nicht erschöpft.

Auf der Suche nach dem (glücklichen) Ende

Wie schwer es in Wirklichkeit ist, eine ansprechende Geschichte filmisch zu erzählen und der dramaturgischen Entwicklung der Figuren genügend Raum zu geben, vermittelt der wenig aufwändig produzierte iranische Film „Der Nachtzug“ (2019) von Hamidreza Ghotbi für Kinder gut verständlich, wenn auch didaktisch-pädagogisch mitunter etwas aufgetragen. Auf einer langen Zugfahrt wird eine fünfjährige Halbwaise, die bei ihrem Vater aufwächst, von einer Lehrerin mit Erzählungen aufgemuntert. Diese verspricht, das Mädchen bei nächster Gelegenheit zu besuchen. Statt diese Geschichte linear weiterzuerzählen, fügt der Film eine neue Handlungsebene hinzu, der später noch weitere folgen. Denn die Lehrerin, die zugleich als Kinderbuchautorin tätig ist, erzählt den Anfang dieser Geschichte gerade ihren Schüler*innen, damit diese ihre eigene Fantasie nutzen. Sie sollen die Geschichte weitererzählen, neue Figuren hinzufügen, die Vorgeschichte ausschmücken und sich überlegen, wie der Film enden kann. Selbst das Ende wird in einer amüsanten Parallelmontage noch einmal neu inszeniert, weil die Kinder mit ihrem eigenen Ergebnis nicht zufrieden sind und sich dann untereinander genau erklären, warum ihnen ein Happy End so wichtig ist.

"Der Nachtzug" Quelle: Internationales Filmfestival Schlingel

Literarische Vorlagen

Filme nach literarischen Vorlagen müssen sich über das Ende nicht so viele Gedanken machen, denn dieses ist bereits vorgegeben und lässt sich allenfalls noch inszenatorisch beeinflussen. Manchmal können solche Vorgaben zum Handicap werden, wenn sie aus dem literarischen Vorstellungsvermögen in die gegenständliche Form des Films rücken, so wie bei den beiden russischen Filmen „Schwesterchen“ (2019) von Alexander Galibin und „Taganok-Team“ (2020) von Ainur Asharow nach in ihrer Heimat berühmten Vorlagen. „Schwesterchen“ blendet zurück in die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs in ein ärmliches baschkirisches Dorf, in dem der sechsjährige Jamil sehnsüchtig auf die Rückkehr seines Vaters aus dem Krieg wartet. Stattdessen bringt die Mutter von einer Reise ein blondes Mädchen namens Oksana mit, das der Vater vor den Nazis gerettet hat, und eine fremde Sprache spricht. In seiner Bildsprache und im Rollenspiel der Kinderdarsteller*innen nach allerbester Tradition der russischen Kinematographie überzeugend inszeniert, verliert der Film in der zweiten Hälfte an Stringenz, nachdem die „neue“ Schwester ihr Trauma bewältigt hat und sich ihrer Umwelt zu öffnen beginnt und der Fokus dann ganz auf dem Jungen liegt, der um jeden Preis in den Krieg ziehen möchte. Und so schön das optimistische Ende samt Regenbogen auch sein mag, es wirkt im Film doch arg dick aufgetragen.

Existenzialistisch auf eine ganz andere Weise in „Taganok-Team“ sind die Erlebnisse von drei Freunden in einem kleinen Dorf, in dem ein mobiles Kino die einzige Abwechslung bringt. Nachdem der Filmvorführer ihnen eine Legende über einen bevorstehenden Felssturz erzählte, setzen die Kinder alles daran, um ihr Dorf zu retten, müssen aber zunächst mit sich selbst und ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Schwächen zurechtkommen, bis ihre Fantasie über die Realität hinauswächst.

Gesellschaftskritik im Kinderfilm

"Der Club der hässlichen Kinder" Quelle: Internationales Filmfestival Schlingel

Die Diskussion, ob ein Kinderfilm dezidiert gesellschaftspolitische Themen aufgreifen darf, ist in Deutschland noch in vollen Gang, in den Niederlanden längst entschieden und selbstverständlich. Zwei aktuelle Literaturverfilmungen stechen hervor: In „Die Piraten von nebenan“ (Pim van Hoeve, 2020) möchte eine ungebildete und im Benehmen reichlich ungehobelte Piratenfamilie endlich Anker setzen und in einem kleinbürgerlich geprägten Ort eine neue Heimat finden, was sich als weitaus komplizierter als erhofft herausstellt. Man kann den von der Kinderjury ausgezeichneten Film als lustigen, fast schon billigen Klamauk abtun, zumal das Piratenschiff ohne ersichtlichen logischen Grund direkt zwischen zwei Wohnhäusern platziert ist, Rülpsen und das Verspeisen von Fischköpfen als Leibspeise ausgiebig ausgereizt wird und der Piratenkapitän unverkennbar Captain Jack Sparrow aus der erfolgreichen „Fluch der Karibik‟-Filmreihe (seit 2003) nachempfunden ist. Man kann diesen Unterhaltungsfilm aber genauso gut als wunderbare, kindgerechte Parabel über die Angst vor dem Fremden sehen, die Vorurteile etwa gegenüber Migrant*innen aufgreift und zeigt, wie Integration in allen ihren negativen und positiven Aspekten am Ende vielleicht doch gelingen kann.

„Der Club der hässlichen Kinder“ (2019) von Jonathan Elbers entwirft eine dystopische Gesellschaft in naher Zukunft, die Parallelen zur NS-Diktatur und der Euthanasie und zu George Orwells Roman „1984“ setzt. Alle Kinder, die nicht den äußeren Normen von „Schönheit“ entsprechen, sollen unter einem Vorwand aus der Gesellschaft ausgesondert werden, egal ob sie eine Narbe haben, eine Zahnspange tragen oder Segelohren haben wie Paul, dessen Vater ein einflussreicher TV-Journalist und Meinungsmacher im Land ist. Was für einige Bewohner*innen zunächst wie ein willkommener Befreiungsschlag wirkt, um nur noch den werbewirksamen äußeren Schein vor Augen haben zu müssen, ruft bei vielen Kindern Abscheu und Entsetzen hervor. Sie beginnen sich zu solidarisieren und sich gegen den Präsidenten und sein Vorhaben zu wehren. Auch hier werden filmische Vorbilder zitiert und die Gesetze der Machtausübung außer Kraft gesetzt, aber die Gesellschaftsparabel geht unter die Haut und die Kinder wissen sich Gehör gegenüber den Erwachsenen zu verschaffen.

Selbst bei literarischen Vorlagen sind Überraschungen möglich, insbesondere dann, wenn sich im Verlauf der Filmhandlung das Genre fast unmerklich vom Sozialdrama zum Science Fiction-Film verschiebt wie in dem polnischen Beitrag „Die schwarze Mühle“ (Mariusz Palej, 2020). Er hatte in Chemnitz seine Welturaufführung und erhielt den Preis der Juniorjury. Ein gegenwartsbezogener Kinderfilm, der einmal nicht in einer gutbürgerlichen Familie angesiedelt ist, in der Geld und damit auch Ausstattungsdetails und Requisiten kaum mehr eine Rolle spielen. Iwos Vater gilt seit einem Brand in der Fabrik des Hauptarbeitgebers im Dorf als verschollen, die schwangere Mutter erlitt beim Unglück einen Schock und gebar eine behinderte Tochter, die für sie unerschwinglich teure Medikamente benötigt und ständig beaufsichtigt werden muss. Dabei möchte Iwo nicht länger Babysitter spielen und viel lieber mit seinen Freunden abhängen. Das ändert sich erst, als im Dorf unerklärliche Dinge passieren, metallische Gegenstände aller Art verschwinden, Vögel tot vom Himmel fallen. Schon bald sind Iwo und seine Freunde ganz allein auf sich gestellt und Iwos schwerbehinderte Schwester scheint der Schlüssel zu sein, um das Dorf vor der völligen Vernichtung retten zu können.

Originäre Filmstoffe

Wie anhand der oben genannten Beispiele deutlich wurde, geht es nicht um konstruierte Gegensätze zwischen Literaturverfilmungen und originären Filmstoffen. Gleichwohl boten beim „Schlingel‟ insbesondere originäre Filmstoffe die meisten Überraschungen, indem sie Experimente wagten oder bekannte Filmstoffe völlig anders umsetzten. So etwas ist auch schon bei Filmen für ein ganz junges Publikum möglich. In „Der Sommer, in dem wir allein waren“ (2020) von Silje Salomonsen und Arild Østin, ausgezeichnet mit dem Sonderpreis des MDR, müssen sich die neunjährige Vega und ihre fünfjährige Schwester allein auf sich gestellt in der norwegischen Wildnis zurechtfinden, nachdem ihr Vater bei einem gemeinsamen Ausflug in eine Felsspalte gestürzt ist und dringend Hilfe benötigt. Abenteuer, wilde Natur und poetische Lichtspiele, die Kraft der Fantasie und der Glaube an sich selbst verbinden sich hier zu einer spannenden Reise, in der demente alte und psychisch kranke junge Menschen genauso ihren Platz finden wie die beiden streitenden und sich wieder versöhnenden Schwestern.

In „Team Marco“ (2019) von Julio Vincent Gambuto aus den USA gelingt es einem italienischstämmigen Großvater, seinen Enkel und Computer-Nerd für das Bocciaspiel zu begeistern, den Weg zurück ins pralle Leben zu finden und den Wert von zunächst als überflüssig erachteten Freund*innen zu erkennen. Und in dem niederländischen „Jackie & Oopjen“ (Annemarie van de Mond, 2020) wird nicht – wie so oft – ein wertvolles altes Gemälde gestohlen, sondern die von dem Maler Rembrandt porträtierte Figur entsteigt dem Bild auf der Suche nach ihrer von einem Stümper porträtierten Tochter. Das stellt das Leben der Tochter der Museumsdirektorin auf den Kopf. Schade nur, dass die interessante Figurenkonstellation etwas verliert, indem man auf ein tumbes erwachsenes Muttersöhnchen und eine böse alte „Hexe‟ dann doch nicht verzichten wollte.

Nicht nur durch den Handlungsort im australischen Outback ist „Moon Rock for Monday“ (Kurt Martin, 2020) meilenweit vom niederländischen Film entfernt. Ausgezeichnet mit dem Hauptpreis der Internationalen Fachjury, dem Preis der FIPRESCI-Jury und einer Lobenden Erwähnung der Juniorfilm-Jury, beeindruckte dieses schräge Roadmovie offenbar Alt und Jung gleichermaßen. Wo sonst in einem Kinderfilm treffen ein neunjähriges schwer erkranktes Mädchen und ein 18-jähriger Dieb, der wegen Mordes von der Polizei gejagt wird, aufeinander, um gemeinsam eine Reise durch Zentralaustralien anzutreten? Das Mädchen ist auf der Suche nach einem Mondstein, von dem sie sich Heilung erhofft, der Teenager benutzt sie zuerst, um sich verstecken zu können, bis auch er zeigt, dass man Menschen niemals nur nach ihrem äußeren Erscheinungsbild beurteilen sollte. Was auch immer man über diesen grandiosen Film denken mag: In Deutschland wäre er sicher nicht realisierbar gewesen!

Die (harte) Realität?

"Jhalki" Quelle: Internationales Filmfestival Schlingel

Nicht nur der Vollständigkeit halber darf ein Film am Ende nicht unerwähnt bleiben, der weltweit schon viele Preise bekommen hat und daher in Chemnitz nur in der Sektion Panorama gezeigt wurde. Der indische Beitrag „Jhalki – 150 Million Magical Sparrows“ (Brahmanand S. Siingh, Tanvi Jain, 2019) schafft es dank eines wiederholt zitierten und animierten Märchens, das den Film wie ein roter Faden durchzieht, kindgerecht und zugleich sehr präzise ein heikles Thema aufzugreifen. Im organisierten Kinderhandel (nicht nur) in Indien werden Kinder unter unsäglichen Bedingungen als Arbeitssklav*innen in Fabriken gefangengehalten. Mit Mut und unerschütterlicher Beharrlichkeit, die auch vor den behördlichen Autoritäten nicht nachlässt, macht sich ein Mädchen auf die Suche nach ihrem verschollenen kleinen Bruder irgendwo in der fernen Stadt. Auch solche harten Themen sind offenbar im Kinderfilm möglich: Man muss es in der Umsetzung nur gut können – und vor allem wollen.

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