Artikel > Festivals

Festivals | | von Holger Twele

Erwachsenwerden auf Probe

Die Reihe 14plus bei Berlinale Generation 2022

Auch die diesjährigen Beiträge der Jugendfilmreihe 14plus der Sektion Generation bei der Berlinale legen den Fokus auf persönliche Geschichten, auf Familien und zwischenmenschliche Beziehungen. Sie erzählen teils von schwierigen Ablösungsprozessen, aber auch von unbändiger Lebenslust – und führen den Trend der hybriden Formen fort, der eine klare Unterscheidung zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm bisweilen unmöglich macht.

"Kind Hearts" (c) Olivia Rochette, Gerard-Jan Claes

Bei den zwölf Wettbewerbsbeiträgen von Generation 14plus zeichneten sich mindestens zwei Trends ab, die offenbar auch das Gesamtprogramm der Berlinale 2022 beeinflussten: Der wohl durch die Pandemie mitverursachte besondere Fokus auf den Stellenwert von Familie und zwischenmenschlichen Beziehungen fand seine Entsprechung in persönlichen Geschichten über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens, in der Ablösung vom Elternhaus und ersten Schritten in die berufliche Zukunft sowie im Experimentieren der Figuren mit neuen Rollen und Identitäten insbesondere in puncto Liebe und Sexualität. Zugleich verschwimmen die ohnehin nie festgeschriebenen Grenzen zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm immer mehr zugunsten eines hybriden Inszenierungsstils, der vorgefundene und imaginierte, also mögliche Ausschnitte gesellschaftlicher Wirklichkeit souverän miteinander kombiniert.

Geglückte und weniger geglückte Experimente beim dokumentarischen Erzählen

Ein Drittel der Beiträge bestand aus dokumentarischen Mischformen, wobei die kolumbianisch-chilenisch-rumänische Koproduktion „Alis“ besonders überraschte und vollkommen zu Recht den Gläsernen Bären der Jugendjury erhielt. Clare Weiskopf und Nicolás van Hemelryck arbeiten filmisch schon seit mehreren Jahren in einem staatlichen Heim für junge Frauen, deren Eltern aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage sind, sich um den Nachwuchs zu kümmern. Zehn dieser Jugendlichen, zum Teil ehemalige Straßenkinder, die zu Drogen griffen, sich prostituierten und vielfältige Gewalterfahrungen machten, werden vor dem bildlichen Hintergrund einer Schrankwand mit offenen Spinden porträtiert. Das wirkt auf den ersten Blick nicht gerade berauschend. Was den Film dennoch überaus spannend macht, ist der dramaturgische Trick, diese Jugendlichen gar nicht unmittelbar zu ihrer eigenen Lebensgeschichte zu befragen. Stattdessen sollen sie sich die fiktive Mitschülerin Alis imaginieren und darüber erzählen, was sie mit ihr erlebt oder von ihr erfahren haben könnten. So wird Alis zur Projektionsfläche für eigene vergangene Schrecken und gleichermaßen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Ohne in Gefahr zu geraten, sich ein Narrativ über die eigene Lebensgeschichte zurechtlegen zu müssen, das künstlich geschönt oder zu sehr auf ein Trauma konzentriert wäre, öffnen sich diese jungen Menschen vor der Kamera auf eine intime Weise, die ihre Persönlichkeit geradezu zum Leuchten bringt.

"Alis" (c) Casatarántula

Leider nicht ganz so gelungen ist die Langzeitdokumentation „Allons enfants“ aus Frankreich von Thierry Demaizière und Alban Teurlai, wobei auch die hier porträtierten Jugendlichen überwiegend aus sozial schwierigen Verhältnissen stammen. Sie alle besuchen eine Schule, die sie nicht nur auf das Abitur vorbereiten soll, sondern sie gleichzeitig zu Profitänzer*innen ausbildet. Kaum hat man einen Teil dieser Jugendlichen etwas besser kennengelernt, macht der Film große elliptische Sprünge, die weniger eine Entwicklung nachvollziehbar machen als ein wenn auch nur vorübergehendes Scheitern durch schlechte Noten dokumentieren. Der Empathie oder gar Identifikation abträglich sind insbesondere zahlreiche Interviews aus dem Off, wobei die Protagonist*innen gar nicht selbst zu sehen sind und ihre Stimmen mit fast schon beliebig ausgewählten Tanz- und Trainingsszenen „bebildert“ werden.

Neue Bilder und verschwimmende Grenzen zwischen Doku und Fiktion

Zehn Jahre lang haben Günther Kurth und Tine Kugler ihren Protagonisten Pascal, genannt Kalle, für ihren Film „Kalle Kosmonaut“ mit der Kamera begleitet, wobei der Kontakt selbst dann nicht abriss, als Kalle für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis musste. Aufgewachsen in den Plattenbauten im Nordosten von Berlin, kämpfte der aufgeweckte Junge unentwegt dagegen an, ein typisches „Ghetto-Kid‟ zu sein, geriet später aber doch vorübergehend auf die schiefe Bahn durch Drogen und Gewalt. Neben tieferen Einblicken in Kalles Leben und das seiner Mutter sowie Interviews etwa mit einer Streifenpolizistin, die Kalle schon lange kennt und schätzt, besticht der Film durch animierte Stop-Motion-Sequenzen, die genau das visualisieren, was die dokumentarische Kamera nicht ohne Weiteres erfassen kann, wie seine Gefühlslage oder seine Erfahrungen im Gefängnis. Eine sehenswerte Dokumentation, die lediglich gegen Ende hin etwas abfällt, wenn die beiden Filmschaffenden ihren dokumentarischen Blick längst zugunsten einer unmittelbar eingebundenen freundschaftlichen Beziehung aufgegeben haben, was Fragen zur dokumentarischen Inszenierung aufwirft.

"Kalle Kosmonaut" (c) Alireza Darvish

In „Kind Hearts“ aus Belgien von Olivia Rochette und Gerard-Jan Claes verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation so sehr, dass sie fast nicht mehr wahrzunehmen sind. Der Film erhielt den Großen Preis der Internationalen Jury ex aequo mit dem Spielfilm „Skhema“. Er wagt den überzeugenden Versuch, eine seit drei Jahren bestehende echte Liebesbeziehung zwischen zwei Jugendlichen nach dem Schulabschluss und vor dem Studium mit typischen Unsicherheiten in Bezug auf eine feste Bindung und mit offenem Ausgang zu dokumentieren.

Schwierige Schritte in die Selbstständigkeit

Bei den fiktionalen Filmstoffen schälten sich zwei Themenschwerpunkte heraus, wobei die Ablösung vom Elternhaus beziehungsweise die Schritte in die Selbstständigkeit zwar typisch für viele Coming-of-Age-Filme sind, hier aber eine besondere Ausprägung erhalten. Denn für die Brüder Derek und Ethan, den beiden Hauptfiguren in „Stay Awake“ (USA) von Jamie Sisley, bedeutet das nahezu täglichen Stress in einer extremen Ausnahmesituation, die an die Substanz geht. Die alleinerziehende Mutter ist morphiumsüchtig und uneinsichtig in Bezug auf Therapieangebote, zumal sie dennoch eine gute Mutter sein möchte. Das klappt gerade noch bei der Zubereitung des Essens, doch dann verlässt sie die Wohnung und besorgt sich mit Tricks und Hilfe eines skrupellosen Arztes wieder neue Medikamente. Fast jeden Abend das gleiche „Spiel“: Verzweifelt suchen die Brüder nach der Mutter, die hilflos in irgendeiner Ecke liegt, bringen sie mit Mühe und Not ins Krankenhaus, wo sie am nächsten Morgen wieder entlassen wird. Als der ältere der beiden Söhne ein Stipendium erhält, müssen beide entscheiden, ob sie in der Lage sind, sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien. Sie ist vor der Folie der Verschreibungspraxis und des überhandnehmenden Tablettenmissbrauchs in den USA alles andere als ein Einzelfall.

Im Vergleich zur unmittelbaren Existenznot der beiden Brüder muten die Probleme von Millie in der neuseeländischen Tragikomödie „Millie Lies Down“ von Michelle Savill geradezu harmlos an, obwohl auch Panikattacken alles andere als nebensächlich sind. Eine solche hat die junge Studentin kurz vor dem Start ihres Flugzeugs, das sie nach New York bringen soll. Dort hat sie einen Praktikumsplatz erhalten, um den sie alle beneiden. Entsprechend groß ist der Erwartungsdruck auf Millie und alle ihre Freund*innen wollen natürlich wissen, was sie in der fernen Großstadt erlebt. Aber Millie muss in letzter Minute das Flugzeug verlassen und kann sich kein Ersatzticket für einen anderen Flug leisten. Weil sie es nicht übers Herz bringt, ihrer Familie und ihren Freund*innen die Wahrheit zu sagen, taucht sie in Neuseeland unter und sendet mit dem Smartphone Fake News über die vermeintliche Reise. Eigentlich eine schöne Filmidee, die in vielen absurden und tragikomischen Situationen ausgekostet wird, etwa wenn sie ihre eigene Katze stiehlt oder ihre engsten Freund*innen inkognito in arge Bedrängnis bringt. Leider trägt diese Konstellation nicht auf die Dauer von 100 Minuten, was auch das anfängliche Mitgefühl für Millie eher ins Gegenteil verkehrt.

Echte und falsche Liebesgeschichten

"Strana Sascha" (c) Vega Films

Das Bedürfnis nach Nähe, Zuneigung und Liebe ist in nahezu allen Filmen des diesjährigen 14plus-Wettbewerbs präsent und reicht von ersten intensiven Erfahrungen mit der Liebe bis hin zu Rollenspielen und der Suche nach der eigenen, auch sexuellen Identität. Die Gefahr, als Filmemacher*in dabei etwas platt zu erzählen oder gar pädagogisch zu wirken, lässt sich nicht immer ausschließen. Immerhin gelingt es Farkhat Sharipov in „Skhema“, etwas vom Lebensgefühl und dem Alltag junger Mädchen in Kasachstan zu vermitteln, zumindest denen, die aus reichem Elternhaus stammen. Die wollen wie vermutlich überall in der Welt natürlich auch Party machen, sich amüsieren und etwas erleben. Und sie geraten dabei mitunter an den Falschen, der nicht an ihnen selbst interessiert ist, sondern rein sexuelle oder finanzielle Absichten hegt. Die etwa 15-jährige Masha und ihre Freundinnen erliegen diesem Reiz des Unbekannten und lassen sich von einem etwas älteren jungen Mann blenden, in den sich Masha verliebt. Was dann geschieht, wird zwar nicht unmittelbar gezeigt, erfüllt aber ein Schema, dem junge Mädchen auch hierzulande zum Opfer fallen. Als Warnung vor solchen üblen Machenschaften sicher gut gemeint, wirkt der Film doch sehr konstruiert und etwas zu pädagogisch, um emotional wirklich zu bewegen.

Eine „echte“ Liebesgeschichte aus dem heutigen Kaliningrad inmitten der Aufbruchsstimmung zwischen Schulabschluss und Studienbeginn erzählt dagegen Julia Trofimova in „Strana Sascha“. Ihr Protagonist Sascha ist bei der alleinerziehenden Mutter aufgewachsen, den Vater hat er bisher nicht kennengelernt, obwohl dieser das inzwischen wünscht. Sascha hängt lieber mit seinem Freund Max herum und interessiert sich für Graffiti, als sich ernsthaft um sein mögliches Studium zu kümmern. Das ändert sich, als er der gleichaltrigen Zhenya im Warteraum einer Psychiaterin begegnet, die unter Panikattacken leidet, epileptische Anfälle bekommt und im Unterschied zu Sascha klare Vorstellungen von der Zukunft hat. Sie möchte Design studieren. Auch wenn der Film einige gängige Rollenmuster bedient, wie einen völlig überflüssigen Vater, eine sehr fürsorgliche Mutter und eine reifere Freundin, die Sascha Sinn und Halt zu geben vermag, gelingt es der Regisseurin, das Lebensgefühl junger Menschen mit leichter Hand einzufangen.

Brodelnde Gefühle – aus männlicher und weiblicher Perspektive

Abschließend seien zwei Filme erwähnt, die in Berlin als unmittelbares Pendant wahrgenommen wurden, denn in beiden geht es um sexuelle Identität aus männlicher und aus weiblicher Perspektive. Im argentinischen Beitrag „Sublime“ von Mariano Biasin stürzt der 16-jährige Manu in ein Gefühlschaos, als er sich plötzlich in seinen langjährigen besten Freund Felipe verliebt, der aber gerade seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Mädchen macht und nichts anderes im Sinn hat. Die Erwachsenen spielen so gut wie keine Rolle, alles entwickelt sich zwischen den Jugendlichen selbst. Es brodelt nur so von unterschwelligen Gefühlen – und die entladen sich in Hilflosigkeit und Wutanfällen. Ein Coming-of-Age-Film im besten Sinn des Wortes, in dem die Kamera dicht an den Figuren bleibt, ohne aufdringlich zu wirken, und in dem die Musik das ergänzt, was die Bilder allein nicht leisten können. Denn die beiden Freunde spielen zusammen in einer Band, wobei ihr musikalisches Talent noch viel Luft nach oben hat. Aber darauf kommt es in diesem sensibel erzählten Film nicht an.

"Tytöt tytöt tytöt / Girl Picture" (c) Ilkka Saastamoinen, Citizen Jane Productions

In „Tytöt tytöt tytöt/Girl Picture“ aus Finnland von Alli Haapasalo sind die Freundinnen Rönkkö und Mimmi ein unzertrennliches Team, das mit unbändiger Lebenslust auf der Suche nach Liebe und Befriedigung ist. Ihre Freundschaft zerbricht selbst dann nicht, als sich die äußerst impulsive Mimmi in die geheimnisvolle Eiskunstläuferin Emma verliebt. Diese lernt in dieser Beziehung mühsam, sich von den Erwartungshaltungen ihrer Mutter zu lösen und zu ihren wahren Bedürfnissen zu stehen. Mitunter etwas schrill und laut, besticht der Film durch die Leistung seiner Darstellerinnen und vermittelt den Eindruck einer jungen Generation, die zwar noch nicht weiß, was sie will, die das aber mit allen Mitteln und mit voller Kraft herausfinden möchte und dabei auch alte Rollenmuster überwindet.

Zurück