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Festivals | | von Katrin Hoffmann

Animierte Spiegel unserer Welt

Drei bemerkenswerte Animationsfilme beim "Schlingel" 2020

Ganz nah dran an unserer Erfahrungswelt und an den gegenwärtigen großen Fragen unserer Zeit: Beim Filmfestival „Schlingel‟ wurden drei auch ästhetisch bemerkenswerte Animationsfilme präsentiert, die über die Rolle der Natur, die Möglichkeiten des friedlichen Zusammenlebens und die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern erzählen und durch ihre ansprechende Form auch ein junges Publikum erreichen.

"Le voyage du prince" Quelle: Internationales Filmfestival Schlingel

Animationsfilme können fantastische Welten entwerfen, die für uns so weit weg sind, dass sie die Sehnsucht auslösen, in die gemalten Universen einzutauchen und mit ihnen zu verschmelzen. Auf dem Internationalen Filmfestival „Schlingel‟ in Chemnitz jedoch waren in diesem Jahr drei animierte Filme zu sehen, die sich ganz unterschiedlich mit Gesellschaftsentwürfen beschäftigten, die nah an unsere Erfahrungen anschließen. Interessanterweise wurden alle drei Filme in Frankreich oder in Zusammenarbeit mit Frankreich produziert, wo es seit langem schon eine ästhetisch hochanspruchsvolle Animationsfilmtradition gibt.

Ein Traum von der Koexistenz zwischen Zivilisation und Natur

Betörend schön ist die französich-luxemburgische Koproduktion „Le voyage du prince“ („Die Reise des Prinzen‟, 2019) von Jean-François Laguionie und Xavier Picard. Aus fernen Landen rettet sich der alte Affenprinz Laurent ans Ufer der Insel Nioukos, nachdem seine Truppen samt Rössern und Reitern untergegangen sind. Am Strand entdeckt ihn der junge Tom, Adoptivsohn zweier Wissenschaftseltern, die mit ihm am Rande der großen Stadt leben. Zwei Affenwelten prallen nun aufeinander. Mit der Hybris eines Volkes, das sich aus den Baumkronen hinab auf den Boden begeben hat, lehnen die Nioukoser*innen den gestrandeten Fremden ab. Das geht schließlich soweit, dass sie ihn im Zoo einsperren, weil sie ihn für ungebildet und noch ganz dem Tierreich zugehörig ansehen.

Tom ist derjenige, der sich zwischen den beiden Affenwelten bewegt, und nachdem er dem Prinzen zur Flucht verhilft, kehren sie gemeinsam in Toms alte Heimat hoch über den Urwaldwipfeln zurück. Ihr „Aufstieg“ in einem Lianenlift ist eine Reise vom dunklen Urwaldboden hinauf in die Helligkeit. Oben erwartet sie eine hochentwickelte, ganz der Natur verhaftete Affenkolonie. Die hier in den Baumkronen leben, haben nicht vergessen, wer sie sind, und schaffen es, ökologisches Leben mit ihrer fortschrittlichen Kultur zu vereinen. Windräder drehen sich, Nahrungsmittel werden im Flaschenzug transportiert und die Vögel übernehmen das Kommunikationssystem. Weit weg in der Stadt kämpfen die Affenmenschen gegen die Pflanzen, die sich immer mehr ihrer Gebäude bemächtigten. Doch oben, über den Dächern der Welt, herrscht Frieden zwischen Fauna und Flora, eine Koexistenz, die heute wie eine grandiose Utopie anmutet.

Umweltfrevel und die Ignoranz anderen Kulturen gegenüber dichten die Regisseure den Affen an, unseren nächsten tierischen Verwandten. Aus dieser Perspektive lassen sich trefflich unsere eigenen Verfehlungen anprangern. Im Film ist es die Natur, die sich der gebauten Häuser mit aller Kraft wieder bemächtigt – während sich in der Realität die Klimakatastrophe verschärft, die allerdings nicht so idyllisch enden wird wie die von Pflanzen überwucherte Stadt der Wissenschaftler*innen.

Eine bildgewaltige Fabel über Entfremdung, Macht und Intoleranz

Von ihrer ureigenen animalischen Bestimmung entfremden sich auch die Bären in der französisch-italienischen Koproduktion „La fameuse invasion des ours en Sicile“ („Königreich der Bären‟, 2019) von Lorenzo Mattotti. Eine bildgewaltige Fabel über einen Bärenkönig mit seinem Volk, der das von Menschen bewohnte Sizilien regiert. Zunächst treffen wir zwei Moritatensänger, die in einer Höhle Schutz vor dem winterlichen Sturm suchen. Als sich herausstellt, dass dies die Höhle eines hungrigen Bären ist, erzählen der alte Schausteller und seine junge Assistentin dem Raubtier die alte Sage über die berühmte Invasion Siziliens durch die Bären. Mit dieser Geschichte retten sie ihr Leben, denn der Bär hört aufmerksam zu, anstatt sie zu fressen. Mehr noch: In der Mitte des Films wechselt die Erzählerperspektive und der Bär übernimmt das Ende des Vortrags. War er einst Teil dieser historischen Erzählung?

Die Geschichte des Films geht auf das italienische Kinderbuch von Dino Buzzati aus dem Jahr 1945 zurück. Kann es überhaupt gute Despot*innen geben? „La fameuse invasion des ours en Sicile“ beschreibt, dass sogar der sympathische Bärenkönig Leonce korrumpierbar ist oder sich von seinem kriminellen Berater Entscheidungen einflüstern lässt, die er normalerweise nicht treffen würde. Sein erster großer Fehler ist, nach einem Diebstahl nur die Menschen zu verdächtigen, weil er seiner eigenen Spezies keinen Diebstahl zutraut. Auch hier, wie schon in „Le voyage du prince“, wird die Entfremdung des Individuums von seinen animalischen Wurzeln zum Thema gemacht und gleichzeitig die Intoleranz gegenüber anderen Kulturen kritisiert. Die Bären haben sich die Lebensweise der Menschen angeeignet, sie leben in Häusern, trinken, feiern und können keine Fische mehr fangen. Aber anstatt zu einer friedlichen Koexistenz mit den Menschen zu gelangen, verlassen sie am Ende die Stadt wieder.

Das Experiment eines versöhnlichen Miteinanders ist gescheitert, die Möglichkeit einer revolutionären sozialen Neuordnung liegt nicht im Interesse der Entscheider. Im Gegenteil: Macht geht immer einher mit Korruption und Machtmissbrauch. Dieser entscheidende Teil der Geschichte wird von dem alten Bären in der Höhle zum Besten gegeben, danach verlassen die beiden Moritatensänger*innen dessen Behausung, um eine Episode ihrer „Invasion von Sizilien“ reicher. Ob der alte Bär der Sohn des Bärenkönigs ist, bleibt der Fantasie des Publikums überlassen.

Eine junge Frau fordert die patriarchalen Strukturen heraus

"Calamity" Quelle: Internationales Filmfestival Schlingel

Ein immer noch aktuelles Thema beleuchtet der französische Animationsfilm „Calamity, une enfance de Martha Jane Cannary“ (2020) von Rémi Chayé, der sich der Emanzipation der Frauen widmet. Chayé interessiert sich für die Jugend der Martha Jane Cannary, die Mitte des 19. Jahrhunderts im „Wilden Westen‟ unter Cowboys als Cowgirl lebte, Männerkleidung trug, trank und mit dem Revolver umgehen konnte. Wie mochte wohl deren Jugend ausgesehen haben?

Der Regisseur versucht eine Antwort und beschreibt die Regularien einer strengen bigotten Siedler*innengemeinschaft, die damals für das weibliche Geschlecht nur Kinder, Küche und Kirche vorsah. Spätestens als Martha ihren kranken Vater auf dem Kutscherbock ersetzen will und das nicht darf, ist der Wille des zwölfjährigen Mädchens entfacht, es den Männern gleich zu tun. Sie beginnt, gegen die patriarchalen Strukturen anzukämpfen – ein starkes Plädoyer für die Gleichberechtigung. Bis heute müssen Frauen dafür kämpfen, genauso ernstgenommen zu werden wie Männer. Damals wurde es offen ausgesprochen, dass man als Mädchen nicht das Gleiche tun darf wie Jungen, vor allem keine Hosen tragen und sich die Haare abschneiden, wie Martha es macht. Heute funktioniert die Benachteiligung der Mädchen und Frauen wesentlich subtiler und ist deshalb oft schwer zu benennen. „Calamity“ sensibilisiert die Zuschauer*innen dafür und beweist, dass nicht nur Mädchen genauso mutig und clever sind wie Jungen, sondern auch, dass eine Gesellschaft dazulernen kann.

Gleichberechtigung, Natur und Zusammenleben

Auf ihre eigene Art und Weise behandeln alle drei Animationsfilme Themenkomplexe, die sich in unserem gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs wiederfinden. „Calamity“ stellt die Frage der Gleichberechtigung explizit, während „Le voyage du prince“ seine Themen subtiler angeht. In der Hoffnung auf den Sieg der Natur über das Individuum entwirft er eine Utopie des absoluten Glücks, in der es auch keine Ausgrenzung des Fremden gibt. Die Geschichte der Bären ist da wesentlich unentschlossener. Der Rückzug der Bären ist gleichzeitig das Eingeständnis, dass zwei unterschiedliche Völker nicht in Harmonie miteinander leben können.

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