Den kenn ich doch | | von Christian Exner

Wir wollen Burgen sehen! Und Segelschiffe!

Denn die sind im Kinderfilm Pendants zu Abenteuerspielplätzen und Hochseilgärten

Wer will schon Hochhäuser filmen, wenn er auch Burgen zeigen kann? Wen interessieren hochmoderne effiziente Containerschiffe, wenn die Reise auch auf einem knarzenden Segelschiff angetreten werden kann? Auch deutsche Kinderfilme haben einen Narren an den archaischen Bauten und Transportmitteln gefressen und setzen sie gerne als ebenso mythisch und romantisch aufgeladene wie nostalgisch verklärte Kulisse ein. Weil sie Abenteuer und Erlebnisse versprechen fernab der oft nüchternen Alltagsrealität. Eine neuer Beitrag unserer Reihe „Da war ich schon‟ über Schauplatzstereotype im Kinderfilm.

"Max und die Wilde 7" (c) Leonine

Was ist an Burgen eigentlich „romantisch“? Burgen sind von ihrer ursprünglichen Bestimmung her Wehr-Wohn-Anlagen, Machtzentren und Repräsentativbauten. Eine Mischung aus Kaserne, Wohnblock, Schützengraben, Kanonenrampe, Bunker und Regierungssitz. Eigentlich keine schöne Kulisse zur Inszenierung kindlicher Fantasiewelten. Und dennoch sind Burgen und mittelalterliche Stadtkerne die bevorzugten Schauplätze im Kinderfilm „made in Germany“. Bettenburgen und Wohncontainer sind dagegen tabu. Sie stehen für Realitäten, aus denen man nur fliehen möchte. Das Sozialdrama und die Jugendgewalt sind der Betonplatte eingeschrieben. Doch der Kinderfilm beschwört die exakte Gegenwelt dazu – märchenhaft und feudal verbrämt.

Ein bisschen Idylle muss schon sein

Bei der jährlichen Programmauswahl des Kindermedienfestivals Goldener Spatz kommen fast alle Kino- und TV-Kinderfilme aus deutscher Produktion auf den Bildschirm. Oftmals an die 30 Filme. Ich durfte sie dort erleben, die wunderbare Parade der schönsten Burgen und Schlösser in und um Deutschland. Logisch: Ein Märchenfilm ohne Burg oder Mittelalterambiente ist kaum vorstellbar. Und Märchenfilme liegen noch immer im Trend. Aber auch Internats-, Abenteuer- oder Fantasyfilme wie „Die Wolf-Gäng‟ (Tim Trageser, 2020) oder „Vier zauberhafte Schwestern‟ (Sven Unterwaldt, 2019), ja sogar ein Tierfreundschaftsfilm wie „Lassie‟ (Hanno Olderdissen, 2020) spielen in einer beschaulichen Stadt rund um eine Burg, inklusive adeligem Personal, Schlossgespenstern und Hexen. Und in „Max und die Wilde 7‟ (Winfried Oelsner, 2020) muss der Titelheld in eine einstige Ritterburg ziehen, die zu einem Wohnheim für Senior*innen umgebaut wurde. Da fällt es schon besonders auf wenn Lottas Freundin Cheyenne im Film „Mein Lotta-Leben – Alles Bingo mit Flamingo!‟ (Neele Leana Vollmar, 2019) in einem Hochhaus wohnt, so wie viele Kinder heute. Aber Lotta selber lebt mit ihrer Familie in einem an die Villa Kunterbunt erinnernden Holzhaus. Ganz ohne Idylle und heitere Farben geht es einfach nicht im Kinderfilm.

Burgen sind anschlussfähig für Mythen, eben weil sie schon lange ihre Bestimmung verloren haben und weil ihre Aufhübschung kultur- und baugeschichtlich Tradition hat. Der Rhein ist gesäumt von Repräsentativbauten, die auf die Ära der Raubritter zurückgehen. Ausgerechnet zu Zeiten des erblühenden Industriezeitalters wurden sie mit pittoresken Türmen und Zinnen, ganz den Trends des Historismus folgend, dekoriert. Eine gotische Ziselierung hier, ein Renaissance-Fensterbogen dort. Mit einer prosperierenden Wirtschaft, der Zweckbauten und der Landschaftsverbrauch auf dem Fuße folgen, geht offenbar ein Bedürfnis nach Rückbesinnung auf das vermeintlich tradiert Schöne einher, das umso kostbarer empfunden wird, je mehr es als Rarität und als souvenir mémorable heraussticht. Das gilt übrigens auch für große Segelschiffe.

"Die Wolf-Gäng" (c) Sony

Beim Sturz ins Abenteuer werden keine halben Sachen gemacht

Eins der zentralen Motive des Schriftstellers Joseph Conrad war die untergehende Welt des Frachtsegelns gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Conrad beschwor beim Anblick der Windjammer das Bild eines Doms. Es ist genau diese Eleganz und Erhabenheit, der die Besucher*innen in Massen zu den jährlichen Windjammer-Treffen lockt und der sie an die viel zitierte Romantik der Seefahrt denken lässt. Romantik der Seefahrt? Logbücher aus der späten Phase des Frachtsegelns erzählen eine andere Geschichte. Nicht wenige junge Matrosen stürzten aus den Masten, wurden von Bord geschwemmt oder verschwanden gleich ganz auf Nimmerwiedersehen mitsamt ihren Schiffen an einem der sturmumtosten Kaps. Seeleute waren von der täglichen Anstrengung gezeichnet. Fotos von Schiffsbesatzungen aus der Zeit um 1900 zeigen 30-Jährige in einem körperlichen Zustand, der an betagte Senioren denken lässt.

Doch im Film für Kinder wird immer voll Enthusiasmus aufgeentert – wie bald auch wieder in „Jim Knopf und die Wilde 13‟ (Dennis Gansel, 2020). Es werden alle Segel gesetzt und das Ruder wird hart backbord gelegt. Das ist zwar seemännisch totaler Unsinn. Doch beim Sturz ins Abenteuer sollen keine halben Sachen gemacht werden. Da gibt es keine Sicherungsgurte und keine Helmpflicht. Die Segelkommandos müssen kraftmeierisch wie Angriffsbefehle klingen. Wo kämen wir sonst hin? Auf ein Containerschiff oder auf einen Öltanker womöglich, auf Frachtgiganten, die stocknüchtern mit Autopilot über das Meer pflügen. Nein: Kinderfilmautor*innen lotsen ihre Geschichten durch die sehr beschaulichen Fahrwasser der nostalgischen Holzklassen. Burgen und Segelschiffe sind die filmischen Pendants zu Abenteuerspielplätzen und Hochseilgärten.

"Jim Knopf und die Wilde 13" (c) Rat Pack / JM Filmproduktion / Warner Bros. Ent. / Joe Albas

Wer träumt eigentlich von dem ganzen alten Kram?

Erwachsene gestalten eine filmische Erlebniswelt für Kinder, denn Kinder haben die Produktionsmittel nicht in der Hand. Dazu ist das Filmhandwerk zu komplex. Es müssen also auch ein Stück weit die Träume und Wünsche der Erwachsenen sein, die sich in romantisch-nostalgischen Kulissen und in der mittelalterlich anmutenden Oberfläche der Mythen spiegeln. Ich glaube, Erwachsene und Kinder sind in der Filmkultur ein wenig verschworen gegen die gerasterten Muster, gegen die stupide Eintönigkeit und gegen den ökonomischen Gigantismus der Moderne.

Der Märchenfilm auf den Spuren der Gebrüder Grimm ist klein, beschaulich und handwerklich. Auch Disney schöpft aus dem Mythenpool des europäischen Märchenfundus. Doch in der Ästhetik erkennt man schon auf den ersten Blick den Unterschied. Da erscheint dann das Firmenemblem, ein Neuschwanstein-artiges Schloss, das den Anspruch und die Corporate Identity des Mauskonzerns repräsentiert, zusammen mit dem ganz besonderen Glitzer des Funkenregens, der seit „Fantasia‟ (James Algar, Samuel Armstrong, 1940) ein weiteres Signum von Disney wurde, weil eben nur allein Disney ihn so fein hinbekam. Dieser Firmenjingle hat eine Glätte und einen Luxusappeal, wie man sie sonst nur aus einer Shopping Mall in Singapur oder New York kennt. Vielleicht läuft hier die ökonomisch hochgetrimmte Stilistik der Moderne mit den tradierten Mythenmotiven zusammen und es zeigt sich die Ästhetik eines Historismus im Medienzeitalter, der universell als Traumschleuse funktioniert.

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