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Shadow Game

Entdeckt beim DOK.fest München: Ein authentischer Dokumentarfilm über unbegleitete Jugendliche auf der Flucht durch Europa.

Sie kommen aus Afghanistan, dem Sudan, aus Syrien und insbesondere aus den kurdischen Gebieten dieses Landes, aus Pakistan und dem Irak. Sie alle haben ein Ziel, Europa zu erreichen. Dafür nehmen sie unendliche Strapazen auf sich, legen Hunderte von Kilometern zu Fuß zurück, bis ihre Füße voller offener Wunden sind und sie kaum noch gehen können. Sie sind der Witterung schutzlos ausgeliefert, überwinden Grenzzäune, werden von der schwer bewaffneten Polizei wie Verbrecher*innen verfolgt und verprügelt, sitzen oft monatelang fest und geben die Hoffnung trotzdem nicht auf. Sie alle sind unbegleitete Jugendliche, ganz alleine auf sich gestellt, unterwegs auf unterschiedlichen Routen und an verschiedenen Orten in Griechenland, Nordmazedonien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, später auch in Italien und Frankreich.

Mohammed aus Syrien, der jüngste von ihnen, ist zu Beginn seiner Flucht 14 Jahre, Jano und Shiro sind am Ende des Films 18 Jahre. Einige von ihnen sind schon jahrelang unterwegs, werden an Orten zurückgehalten, an denen es nichts für sie gibt, oder werden beim Versuch, eine der neu in Europa errichteten Grenzen zu überwinden, zurückgeschickt in das Land vor diesem Grenzzaun. Faiz aus dem Sudan beispielsweise ist seit vier Jahren unterwegs und wurde schon sieben Mal an der Grenze zurückgewiesen. Unterwegs werden viele von ihnen ihrer letzten Habseligkeiten beraubt, oder sie arbeiten in einem der Durchgangsländer acht Monate lang, um endlich weiterzukommen, erhalten dann aber keinen Lohn dafür. Sie werden ausgebeutet, bestohlen oder ins Gefängnis gesteckt. Ihre Lage verbessert sich im Laufe der Zeit nicht, sie wird eher schlimmer, analog zur weiteren Abschottung vieler europäischer Staaten. Es ist ein zermürbendes „Spiel“ auf Leben und Tod, wie sie es selbst bezeichnen, wobei keiner von ihnen weiß, wer am Ende gewinnen wird.

Zumindest einer von ihnen wird nach langer Reise am Ende des Films in den Niederlanden ankommen, immerhin ein Hoffnungsschimmer. Es ist ein „Spiel‟ obendrein, das von der Öffentlichkeit kaum beachtet wird, sie alle führen ein Schattendasein wie der Filmtitel bereits vorwegnimmt. Allenfalls ahnen manche, dass unter den Tausenden von Flüchtlingen Richtung Europa, die vor Krieg und Armut fliehen, natürlich auch unbegleitete Minderjährige sind. Manche wollen das aber gar nicht wissen, Kinderschutzrechte hin oder her, selbst diese Jugendlichen werden von ihnen als potenzielle Gefahr gesehen.

Der niederländische Dokumentarfilm von Eefje Blankevoort und Els van Driel, der auf dem DOK.fest München 2021 präsentiert wurde, möchte auf die schnell in Vergessenheit geratenen Schicksale dieser Jugendlichen hinweisen. Ein großer Teil der im Laufe von drei Jahren entstandenen Filmaufnahmen stammt von den Jugendlichen selbst, aufgenommen mit der Handykamera, teils mit zitternder Hand und in verwackelten Bildern. Das macht den Film einerseits besonders authentisch, andererseits überwiegt das subjektive Erlebnis des Augenblicks. Von Extremsituationen abgesehen, haben alle mit ähnlichen Problemen zu kämpfen und machen auch ähnliche Erfahrungen. Sie sind Opfer einer verfehlten europäischen Asylpolitik, auch das klingt zwischen den Bildern immer wieder an. Sich selbst als Opfer sehen sie aber nicht, stattdessen bezeichnen sie ihre Situation mit viel Galgenhumor als eine Art Videospiel, nur eben nichtvirtuell sondernsehr realistisch.

Insbesondere ein junges Publikum wird sich gut mit den Protagonisten dieses Films identifizieren können, zumal er ganz aus der Perspektive von Jugendlichen gedreht wurde, was sonst eher selten der Fall ist. Wer beruflich bereits mit dieser Thematik zu tun oder schon viele Filme über Schicksale von Migrant*innen gesehen hat, wird vielleicht nicht so viel Neues erfahren. Das macht diesen fast schon experimentell anmutenden Film aber nicht weniger sehenswert, zumal er explizit auf die Rechte der Kinder und Jugendlichen hinweist, die überall gelten und immer wieder in Erinnerung gerufen werden müssen. Ein kleiner Mangel ist dem Film dennoch anzulasten. Er nimmt zu viele Schicksale gleichzeitig in den Fokus und wechselt in der Montage ständig zwischen den einzelnen Jugendlichen hin und her, wobei diese dann über die Jahre hinweg auch noch altern und sich an ganz unterschiedlichen Orten befinden. Das macht die Orientierung manchmal nicht einfach, kommt der Gefühlswelt dieser Jugendlichen aber sehr nahe. Denn auch sie wissen oft nicht genau, wie ihnen geschieht.

Holger Twele

© DOK.fest München 2021
14+
Dokumentarfilm

Shadow Game - Niederlande 2021, Regie: Eefje Blankevoort, Els van Driel, Festivalstart: 05.05.2021, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 89 Min. Buch: Eefje Blankevoort, Els van Driel. Kamera: Ton Peters. Musik: Rui Reis Maia. Schnitt: Patrick Schonewille. Produktion: Witfilm. Verleih: offen. Mitwirkende: Mohammed, Faiz, Fuad, Durrab, Mustafa, Jano, Shiro, Mo u. a.