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Yurt

Im Kino: Der 14-jährige Ahmet gerät in eine Zwickmühle, als sein Vater ihn in ein konservatives, muslimisches Wohnheim steckt.

Ahmet stammt aus einer wohlhabenden türkischen Familie und besucht im Jahr 1996 ein privates Gymnasium, das säkular, also weltlich, orientiert ist. Dann bringt ihn sein Vater Kerim, ein erfolgreicher Unternehmer, der sich vor kurzem einer strenggläubigen Gemeinschaft angeschlossen hat, plötzlich in einer Jurte unter. In diesem konservativ-muslimischen Wohnheim für Jungen soll Ahmet den Koran studieren und mit traditionellen Werten vertraut gemacht werden, die ihn laut seines Vaters besser auf das Leben vorbereiten. Doch der verwöhnte Junge tut sich schwer mit den strengen Regeln in der Jurte, in der man schon für kleine Vergehen Ohrfeigen erhält. Vor allem aber verheimlicht er vor seinen Mitschüler*innen, dass er jetzt nicht mehr Zuhause, sondern in der Jurte wohnt. Denn solche Heime gelten in der damals säkular geprägten Türkei als Hort islamischer Aktivisten und damit unerwünscht oder gar gefährlich.

Ahmet wird in der Jurte zunächst von einigen Jugendlichen gemobbt, freundet sich dann aber mit dem etwas älteren Mitschüler Hakan an, der aus einfachen Verhältnissen stammt. Hakan kennt sich im Heim sehr gut aus, jobbt nebenbei als Torwächter und Chauffeur, erweist sich als clever und geschäftstüchtig. Als Junge aus besseren Kreisen wird Ahmet immer wieder vom Religionslehrer Yakub Hodja schikaniert, der seine Macht schamlos missbraucht. Nachdem er sich bei einem Heimaturlaub heftig mit seinem Vater gestritten hat, schlägt Ahmet seinem Kumpel Hakan vor, gemeinsam auszureißen.

„Yurt“ ist der erste lange Spielfilm des türkischen Autors und Regisseurs Nehir Tuna (Jahrgang 1985), der darin eigene Internatserfahrungen verarbeitet hat. Dass er sich in diesem Milieu gut auskennt, merkt man dem Filmdrama an, das mit seinen ruhigen Bildfolgen sehr authentisch wirkt. Über weite Strecken ist „Yurt“ in Schwarzweiß gehalten, erst als Ahmet und Hakan mit einem gekaperten Auto in eine trügerische Freiheit aufbrechen, wird der Film farbig. Der junge Hauptdarsteller Doğa Karakaş versteht es mit seinem eindringlichen zurückhaltenden Spiel, Ahmets innere Zerrissenheit auf die Leinwand zu bringen. Die Kamera bleibt stets nah dran an den jugendlichen Hauptfiguren, folgerichtig erzählt der Film weitgehend aus der Sicht Ahmets.

Seine größte Spannung entfaltet „Yurt“ dadurch, dass Ahmet zwischen zwei Welten pendelt. Morgens fährt er mit dem Bus in die weltoffene Schule, in der er in einer gemischten Klasse Englisch lernt und erste zarte Kontakte zu der neuen Mitschülerin Sevinç knüpft. Auch sie darf nicht erfahren, dass er nach dem Unterricht in das Heim zurückkehrt, in dem er mit anderen Jungs in einem engen Schlafsaal übernachtet. Während Ahmet in der Schule täglich in die nationalistischen Lobgesänge auf den Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk einstimmt, will er in der Jurte in den inneren Gebetskreis aufgenommen werden, der Atatürks Bestrebungen nach einer Trennung von Staat und Religion ablehnt.

Darüber hinaus wechselt der fast 2-stündige Film geschickt zwischen zwei gleich starken Erzählsträngen. Auf der einen Seite hadert Ahmet mit der Entscheidung seines Vaters, ihn gegen seinen Willen im Wohnheim unterzubringen. Vergeblich versucht er, Kerim umzustimmen. Zu stark ist dessen Kehrtwendung zur Strenggläubigkeit. Auf der anderen Seite findet Ahmet in Hakan einen wertvollen Freund und Helfer, der allmählich zu einer Art Ersatzvater avanciert. Geschickt hält der Regisseur diese Beziehung in der Schwebe. Verbindet die beiden nur eine außergewöhnliche Freundschaft? Oder mischen sich auch homoerotische Gefühle hinein? Hinweise darauf gibt es. Etwa wenn sie sich in den Etagenbetten nur mit den Zeigefingern berühren. Oder wenn Ahmet in einer Art Tagtraum von hinten eine nackte Männerstatue umarmt, deren Sockel die Inschrift Eremos trägt. Eremos steht im antiken Griechenland für den jugendlichen Sexualpartner eines erwachsenen Mannes.

Der Film, der auf internationalen Filmfestivals mindestens 15 Auszeichnungen gewonnen hat, nimmt sich Zeit, diese privaten Konflikte in ein breites Gesellschaftsporträt einzubetten. So zeigt er gleich zu Beginn die wachsenden politischen Spannungen zwischen der säkularen Regierung und dem politischen Islam, wenn ein Dozent in der Jurte die Jungs auffordert, alle arabischen Bücher zu verstecken und die arabischen Flugblätter zu verbrennen, weil eine Polizeirazzia bevorsteht (Die Jutebewohner lesen den Koran ausschließlich auf Arabisch und verbreiten ihre Auslegung dessen ebenfalls auf Arabisch). Später entkommt Ahmet gerade so aufgebrachten anti-islamischen Demonstranten, die die Jurte stürmen und Feuer legen. Ohne Kenntnisse über den Islam und die politischen Zusammenhänge in der Türkei erschließen sich dem Publikum zwar nicht alle angerissenen Facetten, der Film gibt jedoch genügend Denkanstöße zu eigenen Recherchen und ermuntert zu Vergleichen mit bedenklichen gesellschaftlichen Entwicklungen, auch, aber nicht nur in der heutigen Türkei.

Reinhard Kleber

© Déjà vu Filmverleih
14+
Spielfilm

Türkei, Deutschland, Frankreich 2023, Regie: Nehir Tuna, Kinostart: 19.06.2025, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 116 Min., Buch: Nehri Tuna, Kamera: Florent Henry, Musik: Avi Medina, Schnitt: Ayris Alpetin, Produktion: TN Yapım, Red Balloon Film, Cine-Sud Promotion, Verleih: déjà vu Filmverleih, Besetzung: Doğa Karakaş (Ahmet), Can Bartu Arslan (Hakan), Ozan Çelik (Yakub Hodja), Tansu Biçer (Ahmets Vater Kerim Gok), Didem Ellialtı (Ahmets Mutter), u. a.

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