Kritiken > Filmkritik
Kritiken > Die aktuellsten Kritiken > Grüße vom Mars

Grüße vom Mars

Im Kino: Wenn Tom die Mission "vier Wochen Ferien bei den Chaos-Großeltern“ übersteht, dann kommt er dem Weltraum ein Stück näher.

Der Mars ist ganz weit weg. Rot ist eine Farbe, die es besser nicht geben sollte. Berührungen sind unangenehm. Asteroid 20-27-NR-7 ist von der Umlaufbahn verschwunden. Chaos ist bedrohlich. Ordnung ist das Prinzip, nach dem sich das Leben des 10 jährigen Tom richtet. Er erklärt uns das immer wieder aus dem Off. Dabei nimmt er uns mit in seine akribisch strukturierte Welt, die er als Autist mit seinen festen Regeln unbedingt braucht. Pünktliches Essen, kein Lärm, immer rechts neben Mama sitzen, das sind nur einige der Anforderungen, nach denen sich auch seine Mutter und die älteren Geschwister richten. Diese klaren Regeln nach denen der Alltag der Familie funktioniert, gerät ins Wanken, als die Mutter aus beruflichen Gründen nach China muss und darum ihre drei Kinder für vier Wochen zu den Großeltern, die sie seit Papas Tod nur selten gesehen haben, aufs Land schickt.

Schon die Ankündigung von Mama, sie müsse etwas mit ihm besprechen, bringt Tom aus der Fassung. Wir sehen und hören als Zuschauer*innen, wie schlimm es für ihn ist, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Sie spricht von China und hinter dem nun verschwommenen Mutterkopf tauchen Bilder aus einer chinesischen Metropole auf, der Lärmpegel steigt, Tom atmet schwer, man hat das Gefühl, zusammen mit ihm in diesem Wirrwarr unterzugehen. Dieses Prinzip der bildlichen und tonalen Umsetzung mittels Bildcollagen und Soundeffekten zieht sich durch den ganzen Film, so als sei man mit Tom gemeinsam den Zumutungen der Außenwelt ausgesetzt.

Der Unterschied zwischen der ordentlichen Hamburger Familienwohnung und dem großelterlichen Haus auf dem Land in Lunau könnte größer kaum sein. Omas Begrüßung „hier gibt es keine Regeln“ kling fast wie eine Kampfansage, wonach soll sich Tom denn richten? Zum Glück hat die Mutter eine Challenge für Tom kreiert. Da dessen größter Traum es ist, einmal Astronaut zu werden und zum Mars zu fliegen, hat sie die Großelternwochen als Mission ausgerufen: wenn er diese vier Wochen schafft, schafft er es auch als Astronaut zum Mars. Dazu schenkt sie ihm ein Logbuch, in das er alle Ereignisse eintragen und dokumentieren kann. Diese Herausforderung nimmt Tom an, dazu rekrutiert er die Geschwister Nina als Funkerin (immer am Handy) und Elmar als ersten Offizier (mutig und stark) um seine Mission bewältigen zu können. Wenn Tom schließlich im Astronauten Anzug das unbekannte Terrain in Lunau betritt, ist die erste Herausforderung die rote Haustür, dann der Lärm, das unordentliche Haus und der oval Esstisch. Zur eigenen völligen Abschottung kann er jetzt nur noch sein Visier herunterklappen und Kopfhörer mit beruhigendem Rauschen aufsetzen. Regisseurin Sarah Winkenstette visualisiert Toms Wahrnehmungswelt mit ordnenden geometrischen Figuren, die sich über das Filmbild legen. Dreiecke, Quadrate, Winkel und parallele Linien lassen uns verstehen, wie disruptiv die Welt um Tom herum für ihn wirken muss. Alles Neue sind für ihn zunächst einmal verwirrende Sinneseindrücke. Aber in Lunau ist eines definitiv viel besser als in der Großstadt – der Nachthimmel! Als Hobby-Astronom begeistert sich Tom so sehr dafür, dass er die Anforderungen bei Oma und Opa seiner Erforschung des Sternenhimmels unterzuordnen vermag. Mit dem alten Teleskop seines Vaters richtet er sich auf dem Dachboden ein und macht sich auf die Suche nach dem verschollenen Asteroiden.

Bekannte Spielfilme für ein jüngeres Publikum zum Thema Autismus sind unter anderem „Wochenendrebellen“ von Marc Rothemund (2023) oder „Das Pferd auf dem Balkon“ von Hüseyin Tabak (2012). In beiden Filmen geht es vor allem um die Frage, wie das Zusammenleben der Erwachsenen mit den autistischen Kindern bewältigt werden kann und welche Anforderungen sich für die Umgebung stellen. Winkenstette aber bleibt ganz bei Tom. Wie schafft er es, sich zurecht zu finden, wie sehen die Herausforderungen aus seiner Sicht für ihn aus? Recht spät erst wird im Film überhaupt explizit benannt, dass er Autist ist. Nach einer nächtlichen Spritztour in Opas Wohnmobil werden die Brüder von der Polizei gestoppt. Elmar muss eine Polizistin davon abhalten, Tom weiterhin im Klammergriff zu halten, also schreit er es ihr entgegen. „Er ist Autist“, vorher musste nicht darüber gesprochen werden. Warum auch, es ist einfach eine Tatsache.

Katrin Hoffmann

© farbfilm verleih
9+
Spielfilm

Deutschland 2024, Regie: Sarah Winkenstette, Kinostart: 08.05.2025, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 9 Jahren, Laufzeit: 82 Min., Buch: Sebastian Grusnick, Thomas Möller, nach deren gleichnamiger Romanvorlage, Kamera: Jakob Berger, Schnitt: Nicole Kortlüke, Produktion: Anette Unger, Sven Rudat/Leitwolf Filmproduktion, Kinescope Film, Verleih: farbfilm verleih, Besetzung: Theo Kretschmer (Tom), Lilli Lacher (Nina), Anton Noltensmeier (Elmar), Michael Wittenborn (Opa), Hedi Kriegeskotte (Oma), Eva Löbau (Mutter) u. a.

Grüße vom Mars - Grüße vom Mars - Grüße vom Mars - Grüße vom Mars - Grüße vom Mars - Grüße vom Mars - Grüße vom Mars -