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Verlorene

Bitteres Drama über eine Familie, in der weder Privatsphäre noch persönliche Wünsche geduldet werden.

Kinder lieben Geheimnisse. Und ein Geheimnis zu haben, zeugt von wachsender Autonomie. Das Kind wird sich bewusst, dass es intime Räume gibt, in die nicht jeder hineinsehen darf, die zu respektieren sind; dass es selbst bestimmen kann, wem es zu ihnen Zutritt gewährt. Dabei entwickelt das Kind auch ein Gespür für die Gefahr, es entwickelt einen Sinn, wann es Geheimnisse offenbaren sollte. Die Beschäftigung mit dem Geheimnis lässt im Laufe des Erwachsenwerdens nach. In der Familie von Hannah und Maria jedoch ist es weiterhin großes Thema, dem auch symbolischer Gehalt zukommt, so dass es sich auch bestens psychoanalytisch deuten lässt.

Hannah versteckt ihre Ausgehklamotten unter dem Bett und ihre besonders persönlichen Dinge verwahrt sie in einer Dose im Wald. Maria begibt sich in das Mechanikgehäuse einer Kirchenorgel hinein, um deren Innenleben zu erforschen und ist dann ganz bei sich. Aber sie trifft sich auch mit jemandem in einer Hütte im Wald, wovon keiner wissen darf.

Wenn Hannahs und Marias Vater, ein verwitweter Zimmermeister mit eigenem Betrieb, den Zusammenhalt der Familie beschwört, wird deutlich, weshalb Geheimnisse für alle ein zentrales Thema sind. Denn in dieser Familie ist es nicht erlaubt, über einen eigenen Raum zu verfügen. Eigene Sehnsüchte und Pläne umzusetzen ist unerwünscht, weshalb auch Maria ihren Studienplatz für Kirchenmusik sausen lässt. Es kommt den Familienmitgliedern selbstverständlich vor, in den intimen Raum des anderen einzudringen und ihn in seinem Tun zu betrachten. Ein erregendes Gefühl. Das Publikum hat daran unfreiwillig teil. Hannah beobachtet ihre Schwester bei ihrem geheimen Tun, sie löst lose Bretter, späht durch Ritzen. So zerrt sie eine ungeheuerliche Tat ans Tageslicht, die sie mit ihrem Handy dokumentiert. Allerdings kann sie das, was sie sieht, nicht öffentlich machen, obgleich sie ihre Schwester gern beschützen würde. Maria nimmt ihr ein Schweigegelübde ab, besiegelt mit einem Tropfen Blut.

Felix Hassenfratz führt in seinem Kinodebüt die Genres des Adoleszenz-, des Familiendramas und Heimatfilms wirkungsvoll und gewinnbringend zusammen. Nüchtern hält er das bedrückende und übergriffige Klima in dieser Familie fest, in der ein Vater die Ablösung seiner Töchter zu verhindern sucht, macht es in den manchmal abrupt gesetzten Schnitten, in den großen Sprüngen spürbar. Um Gefühle macht man nicht viel Gewese, deshalb wird Musik für den Einzelnen so bedeutungsvoll. Besonders der musikalisch hochbegabten Maria erlaubt sie, sich in den Affekten der trefflich ausgewählten Barockstücke von Johann Sebastian Bach auszudrücken.

Minutiös legt der Film in den ersten vierzig Minuten die Spuren für das empörende Geschehen in dieser Familie. Das Verhalten der Schwestern, der Druck, der auf ihnen lastet, wird durch die dörfliche Gemeinschaft und deren noch intakte religiöse Kultur verstärkt. Ruf und Ansehen werden in dem kleinen Dorf, das im badischen Kraichgau angesiedelt ist, hochgehalten, schnell wird eine Person zur Zielscheibe des Tratsches. Dass sich Hassenfratz’ Darsteller*innen den dortigen Dialekt angeeignet haben, trägt wie die Darstellung des Handwerks des Zimmermannes zum Realismus des Films bei, auch wenn der Dialekt nicht immer ganz authentisch wirkt. Schade jedoch, dass „Verlorene“ das Zusammenspiel von Familienstruktur und sozialem Druck sowie die Befreiung davon nicht tiefer auslotet. Im letzten Drittel, in dem die Folgen der von Hannah entdeckten, aber zunächst weiterhin verschwiegenen Tat geschildert werden, verliert das Drehbuch an Überzeugungskraft in der Zeichnung seiner Figuren. Es gipfelt in einem zu plakativen Showdown.

Heidi Strobel

© W-film
16+
Spielfilm

Verlorene - Deutschland 2018, Regie: Felix Hassenfratz, Kinostart: 17.01.2019, FSK: ab 16, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 91 Min., Buch: Felix Hassenfratz. Kamera: Bernhard Keller. Musik: Gregor Schwellenbach, Paul Eisenach. Schnitt: Barbara Toennieshen. Produktion: Viafilm. Darsteller*innen: Maria Dragus (Maria), Anna Bachmann (Hannah), Clemens Schick (Johann), Enno Trebs (Valentin), Meira Durand (Jenny) u.a.

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