Victoria muss weg
Im Kino: Ein Auftragskiller für die Stiefmutter muss her! Tiefschwarze Komödie für Kinder, die mit unausstehlichen Protagonist*innen aufwartet.
Nicht ohne Socken aufs Sofa. Dort nicht liegen, sondern sitzen. Und wer nicht pünktlich zum Essen da ist, bekommt nur Knäckebrot. Ja, Victoria ist schon ziemlich furchtbar. Die neue Stiefmutter von Hedvig und Hendrik stellt nicht nur haufenweise neue Regeln auf, sie scheint auch jener „Beige-Mania“ erlegen zu sein, die oberflächliche Beobachter*innen der sozialen Bildmedien (nicht ganz zu Unrecht) diagnostiziert haben: Wie viele Schattierungen von sandfarben lassen sich denken?
Hedvig und Hendrik wollen allerdings nicht lächelnder Hintergrund in den Handyfotos von Victoria sein. Auch wollen die beiden (soweit verständlich!) sie nicht einfach anstelle ihrer Mutter akzeptieren, und vor allem (sehr verständlich!) sind sie sehr irritiert darüber, dass ihr Vater Nikolai den Bestimmungen seiner neuen Frau nur sekundenlang oberflächlichsten Widerstand entgegensetzt. Wie seine Mutter es später einmal formuliert: Dieser Kerl hat in seinem ganzen Erwachsenenleben noch keine eigene Entscheidung getroffen.
Tote Mütter sind ein in Kinderfilmen schrecklich wuchernder Topos, der meist stenographisch eine besonders verletzliche Situation der kindlichen Hauptfiguren konstatieren soll. In „Victoria muss weg“ ist die Figur nur am Rande interessant, Gunnbjörg Gunnarsdóttir wringt stattdessen die neue Familienkonstellation aus, um daraus jedes Tröpfchen menschlichen Abgrunds für größtmöglich komischen Effekt zu gewinnen. Das Ergebnis ist eine tiefschwarze Komödie für Kinder, eine Genre-Positionierung, an die kaum eine Person sich je getraut hat.
Und um da sehr klar zu sein: Die Figuren in diesem Film sind nahezu alle unerträglich. Hendrik und Hedvig sind egozentrisch, gefühlskalt, latent rassistisch und absolut verzogen. Ihr äußeres Erscheinungsbild ist darauf ausgelegt, all das noch deutlich hervorzuheben: Der kleine Junge wirkt mit Polohemd und gegeltem Seitenscheitel wie ein geschrumpfter BWL-Student aus dem Schmelztiegel der Vorurteile, seine Schwester ist stets wohlfrisiert im Sommerkleid, Herablassung in jedem Blick. Als sich durch einen Comic die Option „Auftragskiller“ auftut, zögern beide nur soweit, wie es um die Realisierbarkeit geht – Geld spielt dabei keine Rolle, eher die Frage, ob sie einem potentiellen Dienstleister denn vertrauen können.
Ein Mörder für Victoria soll her – die beiden machen sich auf die Suche unter den finanziell schlechter Gestellten, in dieser kitschig-schönen norwegischen Kleinstadt am Meer jemand Passendes zu finden, allerdings gar nicht so einfach. Der Obdachlose kommt ohne Beine nicht in Frage, seiner Situation komme der Umstand aber ja eigentlich gelegen, konstatieren die Kinder: „Wenn er arm ist, ist es besser, keine Beine zu haben. Weniger Körperteile, die Nahrung und Wärme brauchen.
Carl aus Bosnien, der eigentlich Dzesaludin heisst, kommt dann für sie in Frage, auch wenn er, anders als in der Vorstellung der Kinder, nicht in der Mafia aktiv ist, sondern für seine Mutter und seine zwei Kinder sorgt – aber genau das bringt ihn schließlich in die Notlage, das Angebot annehmen zu müssen. Er ist, das lässt sich so sagen, die netteste Person im ganzen Film, nur Victorias Mutter kommt da in die Nähe, eine nervige Alkoholikerin, die ohne Hemmungen die Wahrheit sagt. Im Kontext dieser Familie gilt das schon als „erfrischend“.
So furchtbar die allermeisten Figuren sind, so sehr haben sie auch alle Aspekte, die sie menschlich erscheinen lassen – niemand ist nur Karikatur. Die beiden Kinder zweifeln zwischendurch auch an ihrem Auftrag, wollen ihn gar rückgängig machen. Aber nur bis klar wird, dass Victoria eine Entscheidung getroffen hat, mit der sie selbst und ihre Großmutter auf keinen Fall einverstanden sind. Und einmal sieht man Hendrik und Hedvig ausgelassen mit Mehl, Kirschen und anderen Zutaten beim Kuchenbacken in der Küche herumtollen, ganz altersgemäß ungehemmt. Aber Achtung: Der Kuchen soll mit Zyanid aus den Kirschkernen angereichert werden.
Davon ist dieser Film durchtränkt: äußerliche Schönheit mit bitter-giftigem Kern. Alles hier ist großbürgerlicher norwegischer Sonnenschein, bunte Häuserreihe, reichlich Geld und fragwürdige Geschmacksentscheidung. Die Großmutter, die wenig von ihrem Sohn hält, wird schließlich zur treibenden Kraft hinter dem geplanten Auftragsmord, sie sorgt für Geld, Gelegenheit und weitere Bösartigkeiten.
Agnete G. Haaland spielt sie mit großer Begeisterung für kleine Blicke, in einem wunderbaren Ensemble, in dem vor allem Mille Sophie Rist Dalhaug und Sverre Thornam als Hedvig und Hendrik (diese Namen allein schon!) eine beglückende Entdeckung mit Mut zu moralischer Häßlichkeit sind. Ine Marie Wilmann schließlich als Titelfigur Victoria ist ein Genuss: Egozentrisch, dann doch stellenweise durchscheinend zerbrechlich und naiv, beige bis zum Erblassen – die allerletzte Szene gehört ihr und einer persönlichen kleinen, aber absoluten Hölle, auf die der Film zwangsläufig zusteuert, ein häusliches Tableau in Sandtönen mit Knäckebrot.
Was für ein betäubend lustiger, abgründiger Spass. Wie schön, dass Gunnarsdóttir den Mut hatte, das Buch von ihr und Rolf-Magne Andersen so geradeaus zu verfilmen, ohne große Zugeständnisse an moralische Sauberkeit oder pädagogischen Mehrwert. Wir verdanken ihr die unausstehlichsten kindlichen Protagonist*innen der jüngeren Kinderfilm-Vergangenheit.
Rochus Wolff
Victoria må dø - Norwegen 2024, Regie: Gunnbjörg Gunnarsdóttir, Kinostart: 03.04.2025, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 85 Min., Buch: Gunnbjörg Gunnarsdóttir, Rolf-Magne Andersen, Kamera: Øyvind Svanes Lunde, Musik: Olav Øyehaug, Ton: Yngve Sætre, Schnitt: Mina Nybakke, Produktion: Ole Marius Elvestad / På film As, Verleih: Landfilm gGmbH, Besetzung: Mille Sophie Rist Dalhaug (Hedvig), Sverre Thornam (Hendrik), Ine Marie Wilmann (Victoria), Leo Ajkić (Carl / Dzesaludin), Morten Svartveit (Nikolai), Agnete G. Haaland (Großmutter) u. a.





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