Toxic
Im Kino: Die Freundinnen Marija und Kristina tun alles, um in der Modelschule aufgenommen zu werden. In ihrer Radikalität verlieren sie sich selbst.
Eine namenlose, litauische Industriestadt, die schon mal bessere Zeiten gesehen hat: Stillgelegte Fabriken, Umspannwerke, Strommasten, verlassene Gebäude, zusammengeflickte Wohnhäuser und Garagen. Hier spielt sich die Geschichte von Marija und Kristina ab. Die 13-jährige Marija ist gerade zu ihrer Großmutter gezogen. Sie ist groß und schlank, wird in der neuen Umgebung aber aufgrund ihres angeborenen Gehfehlers sofort zur Außenseiterin gestempelt. Die gleichaltrige Kristina dagegen ist selbstbewusst, forsch und weiß, sich durchzusetzen. Sie lebt zusammen mit ihrem Vater, der die meiste Zeit mit seiner Freundin im Bett verbringt. Kristina ist fest entschlossen, den ärmlichen Verhältnissen zu entfliehen, und träumt von einer Karriere als Model. Eine Schule für Models in der Stadt, geleitet von der geschäftstüchtigen Vilma, verheißt eine blendende Zukunft in New York, Japan oder Korea. Das Problem ist nur, dass Vilma für jedes Fotoshooting, jeden Kurs, jedes Casting bis hin zur Aufnahme an der Schule viel Geld verlangt. Zudem müssen sich die Mädchen erniedrigenden Gewichtskontrollen und Vermessungen ihres Körpers unterziehen.
Um Kristina zu gefallen, will auch Marija Kurse in dieser Schule belegen. Und so freunden sich die Mädchen bald an. Zusammen versuchen sie, den Anforderungen an die jungen Models gerecht zu werden. Sie üben das Laufen, streiten sich mit ihren Konkurrentinnen, unterziehen sich gefährlichen Diäten, essen Watte und gar Bandwurmeier oder erbrechen sich nach den Mahlzeiten. Vor allem aber versuchen sie, an Geld heranzukommen – zunächst durch Diebstähle, später sogar durch sexuelle Angebote. Während Kristina dabei die Aktivere und auch Erfahrenere ist, bleibt Marija eher in der beobachtenden Position. Doch auch an ihr geht der Sommer nicht spurlos vorbei, was die letzte Einstellung im Film symbolhaft andeutet.
Der Titel des Films benennt es klipp und klar: Was die litauische Regisseurin und Drehbuchautorin Saulė Bliuvaitė in ihrem Debütfilm schildert, ist ein toxisches, ein giftiges Umfeld, in dem die jungen Mädchen leben und an dem sie fast zugrunde gehen. Dieses Umfeld zeichnet Kameramann Vitautas Katkus eindrücklich in langen, starren Einstellungen, lässt es wie eine feststehende Kulisse wirken, vor der Marija und Kristina agieren. Alles in dieser Stadt scheint in trostloser Bewegungs- und Perspektivlosigkeit zu verharren, allein die beiden Mädchen und andere Gleichaltrige sind in ständiger Bewegung. Doch die meisten ihrer Aktionen richten sich gegen sich selbst, gegen ihren Körper, gegen ihre Seele.
Ob Kristina und Marija es schaffen werden, sich von dem eingeschlagenen Weg zu lösen? Dass die Freundinnen, besonders Kristina, hier als starke Persönlichkeiten beschrieben werden, die ihr Leben aktiv in die Hand nehmen, trägt auf jeden Fall dazu bei, dass sich die Hoffnung hält, am Ende des Sommers und nach all den gemachten Erfahrungen würden die von Vesta Matulytė und Leva Rupeikaitė sehr überzeugend gespielten Protagonistinnen schon erkennen, was gut und was giftig für sie ist. Klären wird Bliuvaitės Film dies nicht. Und bleibt so sicher näher an der Realität als ein versöhnlicher Schluss.
Barbara Felsmann
Akiplesa - Litauen 2024, Regie: Saulė Bliuvaitė, Kinostart: 24.04.2025, FSK: ab 16, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 99 Min., Buch: Saulė Bliuvaitė, Kamera: Vytautas Katkus, Musik: Gediminas Jakubka, Schnitt: Ignė Narbutaitė, Produktion: Giedrė Burokaitė/ Akis bado, Verleih: Grandfilm, Besetzung: Ieva Rupeikaitė (Kristina), Vesta Matulytė (Marija), Giedrius Savickas (Vater von Kristina), Vilma Raubaitė (Leiterin der Modelschule), Eglė Gabrėnaitė (Roma) u. a.



