Christy
Entdeckt bei der Berlinale: Zuckende Knie, gekrümmte Haltung, verschlossenes Gesicht. Nur mit Mühe hat sich der 17-jährige Christy unter Kontrolle.
„Du hast ein Geschenk weggeworfen,“ stellt sein älterer Halbbruder Shane gleich klar, als dieser ihn abholt. Christy ist gerade aus seiner Pflegefamilie geflogen, kann vorübergehend bei Shane bleiben. Eine sentimentale Wiedervereinigung unter Brüdern wird das wohl nicht. Nachdem sie über Jahre voneinander getrennt gelebt haben, ist da keine geschwisterliche Beziehung, an die sie anknüpfen könnten. Was sie nicht davon abhält, sofort mit Wut, Vorwürfen und Vorbehalten aufeinander zu reagieren – unterschwellig, darüber reden können sie nicht. Beide stehen unter Strom, ihre Anspannung ist greifbar.
Für die Brüder ist Christys Rückkehr eine schwierige Situation. Offenbar waren sie schon früh ohne kümmernde Eltern auf sich gestellt. Christy hat kaum Erinnerungen an diese Zeit, noch weniger weiß er etwas mit sich anzufangen, er ist plan- und orientierungslos. Shane hat es geschafft, sich ein bürgerliches Leben aufzubauen, mit Ehefrau Stacey eine eigene Familie gegründet. Der Alltag mit harter Arbeit und dem Baby birgt genug Herausforderungen. Christys Anwesenheit könnte eine zu viel sein.
Aber Christys 18. Geburtstag steht kurz bevor, keine Pflegefamilie wird ihn da noch aufnehmen. Ein Jugendheim lehnt Shane für Christy kategorisch ab, zu tief sitzen die eigenen schlechten Erfahrungen, auch wenn der betreuende Sozialarbeiter beteuert, dass die heutigen Einrichtungen eine gute Option sind. Wohin also mit Christy?
Währenddessen lernt Christy die Nachbarschaft seiner Kindheit neu kennen. Oft sind Frauen die Eisbrecher: Leona nimmt den zurückhaltenden Christy ohne Umschweife zu ihrer Clique mit. Stacey, nicht Shane, bemerkt Christys wachsendes Vertrauen und heißt ihn in der Familie willkommen. Im Friseursalon von Pauline, einst Freundin seiner Mutter, erprobt Christy sein Talent fürs Haareschneiden. Aber es gibt auch die andere Seite von Christys entfernterer Familie, die mit Computerspielen, Alkohol, Joints und latent einer kriminiellen Karriere unter Cousin Jammy lockt.
Eine der Stärken des Films ist, dass nichts auserzählt ist. Vieles müssen, dürfen wir uns selbst zusammenreimen, aus Andeutungen und den Interaktionen der Charaktere. Das funktioniert ganz hervorragend in Zusammenspiel mit der Körpersprache und den Gesichtern seiner Figuren. Christys Einsamkeit und Verlorenheit braucht keinen verbalen Ausdruck, damit wir verstehen und mitfühlen.
Regisseur Brendan Canty hat für sein Langfilmdebüt Laiendarsteller*innen mit keiner oder wenig Schauspielerfahrung gecastet. Einige haben bereits in seinem gleichnamigen Kurzfilm von 2019 mitgewirkt, allen voran Danny Power als Christy und Diarmuid Noyes als Shane, im Kurzfilm noch eine Nebenfigur. Dreh- und Handlungsort ist der Norden der irischen Stadt Cork. Im dortigen HipHop-Kultur-Jugendtreff „Kabin Studio“ hat Canty einen Großteil seiner Besetzung gefunden. Vieles von diesen jungen Menschen ist in Handlung und Figuren eingeflossen. Besonders im Gedächtnis bleibt Robot, der Junge im Rollstuhl mit der großen Klappe, der sagt, wo’s lang geht und der super rappen kann. Allen Figuren ist gemein, dass sie nicht als Opfer von sozialer Ungerechtigkeit, Armut oder Perspektivlosigkeit gezeigt werden. Trotz akkurater Milieuschilderung ist „Christy“ kein Sozialdrama im eigentlichen Sinne, da hier auf anklagende Gesellschaftskritik verzichtet wird. Zwar gibt es in diesem typischen Arbeiterviertel nur wenig (berufliche) Perspektiven, aber es sind Wege zu finden – gute und weniger gute. Christy muss entscheiden, welcher Weg seiner ist. Dafür muss er sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, also mit Shane, der ebenfalls feststeckt. Es dauert, bis die entfremdeten Brüder einander mit ihren emotionalen Verletzungen konfrontieren. Hat Shane Christy als Kind aus Gleichgültigkeit weggeschickt, oder um ihn vor schlechten Einflüssen zu schützen? Alles eine Frage der Perspektive.
Der Film etabliert glaubhaft die funktionierende Idee der Gemeinschaft. Die Jugendlichen, die Christy vorbehaltlos in ihren Kreis aufnehmen, machen das Beste aus den limitierten Möglichkeiten. Ein Sinnbild dafür ist das traditionelle „Bonfire“, ein Freudenfeuer, aus dem Gerümpel improvisiert, das die Freund*innen eifrig gemeinsam gesammelt haben. Das Feuer ist eher mickrig, aber was macht das schon, wenn man es zusammen feiert?
Passend zur schlichten Botschaft „Gemeinsam stark“ begleitet der Film seine lebensechten Figuren unaufgeregt und spart auch im Finale dramatische Zuspitzungen aus, die in konventioneller erzählten Filmen obligatorisch wären. Statt noch eins draufzusetzen, baut das Drama auf Glaubwürdigkeit und gewinnt dadurch an Tiefe. Das Leben ist nicht leicht, oft ungerecht. Manchmal sieht es aber gar nicht so schlecht aus – genau wie ein Haarschnitt im „Christy Style“.
Ulrike Seyffarth
Diese Kritik wurde im Rahmen der Berichterstattung über die Welturaufführung des Films bei Generation 14plus 2025 verfasst.
Irland, Vereinigtes Königreich 2025, Regie: Brendan Canty, Festivalstart: 14.02.2025, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 94 Min., Buch: Brendan Canty & Alan O'Gorman, Kamera: Colm Hogan, Schnitt: Allyn Quigley, Musik: Daithí O'Dronai, Produktion: BBC Film, Fís Éireann / Screen Ireland, Sleeper Films, Verleih: Charades, Wildcard Distribution, Besetzung: Danny Power (Christy), Diarmuid Noyes (Shane), Emma Willis (Stacey), Cara Cullen (Leona), Lewis Brophy (Troy) u.a.
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