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Zirkuskind

Ein mal unterhaltsamer, mal lustiger und mal nachdenklicher Blick hinter die Kulissen der Manege. Kinder-Dokumentarfilm entdeckt bei der Berlinale.

Der Dokumentarfilm „Zirkuskind“ von Anna Koch und Julia Lemke blickt in den Alltag des Elfjährigen, der ein völlig anderes Leben führt als die meisten Kinder im Publikum: Er schläft mit seinem jüngeren Bruder, Giordano, in einem eigenen Waggon, verbringt die Tage auf einer Wiese in Orten, in denen der Zirkus gerade gastiert, geht auch in die Schule, aber meist nur ein, zwei Wochen lang in dieselbe Schule, bevor er mit seiner Familie weiterzieht. Die Handkamerabilder (von Lemke selbst aufgenommen) sind immer nah an den Protagonisten dran und zeigen, wie er das große Zelt mit auf- und wieder abbaut, Süßigkeiten und leuchtendes Plastik-Spielzeug verkauft, die Rinder füttert, Artistik-Nummern ausprobiert und Kunststücke trainiert. Santino spielt Verstecken mit seinem Bruder zwischen Zelt und Tiergehegen und besucht regelmäßig seinen Urgroßvater, den alle nur „Opa Ehe“ nennen.

Die beiden Dokumentarfilmerinnen, die in ihrer neuesten Zusammenarbeit – nach „Schultersieg“ (Julia Lemke, Anna Koch, 2016) und „Glitzer & Staub“ (Julia Lemke, Anna Koch, 2019) – nun einen jüngeren Protagonisten ins Zentrum ihrer Kamera rücken, haben den Jungen und seine Familie über ein Jahr lang begleitet. Der beobachtende Dokumentarfilm fokussiert dabei vor allem auf Santino, der sich allmählich auf die Suche nach seinen Talenten innerhalb der Manege des Circus Arena machen soll, und dessen Urgroßvater, Georg „Ehe“ Frank, den ältesten Zirkusdirektor Deutschlands, der ihm ein wichtiger Ratgeber ist. „Zirkuskind“ baut ganz gezielt eine Art Spannung zwischen diesen zwei Generationen auf, er lebt vom Erleben und der Perspektive des Kindes auf die Welt einerseits und den Erzählungen des Familienoberhaupts andererseits, und zeigt die tiefe Bindung der beiden zueinander.

Besonders an „Zirkuskind“ ist, dass er die Bedürfnisse seines ganz jungen Zielpublikums wahrnimmt und ganz auf sie eingeht. Gerade die Jüngsten sehen sich oft und gerne Dokumentarfilme an, wobei dies in der Regel beobachtende wie kommentierte Tierdokumentationen sind, etwa „Die Reise der Pinguine“ (Luc Jacquet, 2005), „Die Eiche – Mein Zuhause“ (Laurent Charbonnier, Michel Seydoux, 2022) oder jüngst „Die Abenteuer von Kina & Yuk“ (Guillaume Maidatchevsky, 2023),oder Infotainment-Formate wie Geolino TV, die Sendungen der Checker Welt sowie auch die Filme mit Checker Tobi, „Checker Tobi und das Geheimnis unseres Planeten“ (Johannes Honsell, 2019) und „Checker Tobi und die Reise zu den fliegenden Flüssen“ (Johannes Honsell, 2023), die Dokumentarfilm mit einer fiktiven Spielfilmhandlung verknüpfen.

Anna Koch und Julia Lemke gehen anders vor: keine Naturdokumentation, kein informierendes Entertainment. Die beiden Regisseurinnen haben einen ‚richtigen‘ Dokumentarfilm für Kinder gemacht, der denselben Anspruch wie Dokumentarfilme für Erwachsene hat. Einen Film, der Kindern eine Welt zeigt, die sie vielleicht ein Stück weit kennen und dadurch einen tieferen Einblick erhalten. Der ernste Themen – wie den häufigen Schulwechsel – nicht ausspart, auch Stille einfängt und aushält, wenn einmal nur ganz wenig passiert. Ein Film, der einfach zeigt, wie das Leben eines Zirkuskindes aussieht.

 „Zirkuskind“ nimmt die Kinder aber auch an der Hand und macht es ihnen leicht, der Geschichte, die er erzählt, zu folgen. Die Filmemacherinnen lassen den Protagonisten zu Beginn und am Ende des Films aus dem Off sprechen: Gleich einem filmischen Erzähler führt Santinos Stimme als Voice-Over in den Film ein, stellt sich vor und erzählt von sich. Dass sich der Zirkusjunge im Laufe des Films dann kaum mehr in der erzählenden Funktion meldet, fällt einem fast gar nicht auf, so organisch verbindet der Film die Voice-Over-Einleitung mit den anschließenden Dialogen der klassischen dokumentarischen Beobachtung.

Außerdem helfen dem Filmverstehen auch der zeitliche Rahmen von etwas mehr als einem Jahr und die Strukturierung in Jahreszeiten, die nicht nur den Film in Kapitel einteilt, sondern auch eine Bedeutung für das Leben der Zirkusfamilie hat. Denn der Zirkusalltag ist stark von der Witterung und saisonalen Besonderheiten wie Sommerferien oder Weihnachtszeit abhängig. Das thematisiert der Film am Rande mit, lässt die Protagonist*innen erklären und erzählen, was jeweils Schwierigkeiten und Herausforderungen, Chancen und Vorteile sind.

Wenn Santinos Großvater von früher erzählt, vom Aufwachsen in einem Zirkus, dem Kennenlernen seiner Frau oder der Verfolgung der Familie und der Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten, behilft sich der Film der zauberhaften Animation von Magda Kreps und Lea Majeran. Die Protagonisten werden zu einfach gezeichneten Comicfiguren, die im Bild erleben, wovon Opa Ehe erzählt. Das ist nicht nur liebevoll gestaltet, mit lustigen Einlagen versehen und mit passender Musik unterlegt, sondern für die zusehenden Kinder eine Pause von den dokumentarischen Szenen. Und bringt einmal mehr die innige Wertschätzung für die portraitierte Zirkusfamilie zum Ausdruck.

Verena Schmöller

Der Film lief im Programm Generation Kplus bei der Berlinale 2025

 

© Flare
7+
Dokumentarfilm

Deutschland 2025, Regie: Anna Koch & Julia Lemke, Festivalstart: 28.01.2025, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 7 Jahren, Laufzeit: 86 Min., Konzept: Julia Lemke, Anna Koch, Kamera: Julia Lemke, Schnitt: Jamin Benazzouz, Musik: Nils Kacirek, Jörg Hochapfel, Produktion: Katharina Bergfeld, Martin Heisler, Protagonist*innen: Santino Frank, Georg „Ehe“ Frank, Giordano Frank, Gitano Frank u. a.

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