Kritiken > Filmkritik
Kritiken > Die aktuellsten Kritiken > Gotteskinder

Gotteskinder

Im Kino: Hannah und Timotheus sind gerne Teil ihrer Gemeinde. Doch dann kommen Bedürfnisse auf, die den Regeln der Freikirche entgegenstehen.

Einer Gemeinschaft anzugehören, ist schön. Wer möchte nicht mit Gleichgesinnten Zeit verbringen, Zusammenhalt erfahren, die Kraft einer Gruppe spüren? Als soziale Wesen sind wir Menschen auf der Suche nach Anschluss, nach einem Miteinander, das uns stärkt und beglückt. Schwierig wird es allerdings dann, wenn eine Gemeinschaft sich abschottet, Andersdenkende diffamiert und mit knallharten Regeln persönliche Freiheiten beschneidet. Für ihren preisgekrönten Spielfilm „Gotteskinder“ hat sich die Regisseurin und Drehbuchautorin Frauke Lodders mit genau diesem Problem befasst.

Von extremistischen evangelikalen Gemeinden hat man im Zusammenhang mit Donald Trump in letzter Zeit häufiger gehört. Strenggläubige Christ*innen, vor allem aus dem Raum des sogenannten Bible Belt in den Südstaaten der USA, unterstützten den Republikaner bei der zurückliegenden Wahl mit großem Eifer. Dass es auch in Deutschland nicht gerade wenige radikale religiöse Vereinigungen gibt, gerät oft aus dem Blick, wie Frauke Lodders nach intensiver Recherche aufgefallen ist.

In „Gotteskinder“ taucht sie über zwei Jugendliche in den Kosmos der evangelikalen Freikirchen ein und rückt mit einer Handkamera meist nah an ihre Figuren heran. Für die Familie von Hannah und Timotheus ist die Gemeinde der große Fixstern in ihrem Leben. Alles Handeln soll sich nach dem Vorbild Jesu ausrichten. Ablenkung wird nicht gedudelt. Singen und Beten sind feste Bestandteile des Alltags. Interessant dabei: Auch wenn die grundlegenden Ansichten erzkonservativ sind, kommt die Verpackung frisch, schwungvoll und hip daher. Musikevents, Lichtershows und lässige Bezeichnungen – „Celebration“ statt „Feier“ – richten sich besonders an junge Leute, sprechen ihr Bedürfnis nach ekstatischen Gemeinschaftserlebnissen an. Die hier gezeigte Kirche ist längst in der Gegenwart angekommen. In einem von Hannah geleiteten Kurs sprechen zum Beispiel Influencer*innen darüber, wie wichtig es sei, auf den Sex vor der Ehe zu verzichten. Indoktrination auf leicht bekömmliche, unbeschwerte Art. Deshalb aber natürlich nicht weniger bedenklich.

Das von strengen Regeln bestimmte patriarchale System der Gemeinde – in Zeiten starker Verunsicherung womöglich gerade wegen seiner klaren Strukturen attraktiv – übt großen Druck auf Hannah und ihren Bruder Timotheus aus. Auf jeweils eigene Weise hadern sie mit den Erwartungen ihrer Umgebung. Ausgerechnet vor einer wichtigen Reinheitsfeier lernt Hannah den neuen Nachbarsjungen Max kennen. Obwohl er betont rebellisch auftritt und für Religion wenig übrighat, verlieben sich die beiden ineinander. Timotheus wiederum blickt seiner Taufe entgegen, entdeckt aber mehr und mehr seine Gefühle für Mitschüler Jonas. Innerlich droht es ihn zu zerreißen. Denn Homosexualität wird in seinem Glauben als Sünde definiert. Und nur zu gerne möchte er seinen autoritären Vater stolz machen, ihm zeigen, dass er ein „guter Mann“ im Sinne der Gemeinde sein kann.

Das beim Hessischen Filmpreis 2019 ausgezeichnete Drehbuch der Regisseurin wirkt in seiner Grundkonstellation etwas schablonenhaft. Immerhin durchleben hier gleich zwei Familienangehörige aufwühlende Erkenntnisprozesse. Trotz vieler präziser Einblicke in das Freikirchenmilieu bleiben zudem manche Aspekte seltsam diffus: Gehört wirklich die ganze Wohngegend zur Gemeinde? Steht auch die komplette Schule unter dem Einfluss der Evangelikalen? Und was hat es mit dem Verhalten von Max' Mutter auf sich? An einem Punkt liefert sie ihren Sohn den reaktionären Kräften aus, ohne dass wir genau verstehen würden, warum. Hier hat der Film definitiv ein Glaubwürdigkeitsproblem.

Dass „Gotteskinder“ dennoch fesselt und bewegt, hängt vor allem mit Timotheus' Identitätskrise zusammen. Im Streben, es seinem Vater recht zu machen, nimmt der Teenager an einem sogenannten Seelsorgecamp teil. Unter dem Deckmantel der Fürsorge und mittels bedächtiger, aber hochmanipulativer, ja gewalttätiger Worte werden die Zweifelenden hier endgültig gebrochen.

Eine echte Offenbarung ist Jungdarsteller Serafin Mishiev, der schon in seinem Blick Timotheus' Verlorenheit erfahrbar macht. Bei ihm schlägt zweifelsohne das emotionale Herz des Films. Hoch anrechnen muss man Frauke Lodders ferner zwei Dinge: Erfreulicherweise lässt sie ihr Drama über die Wirkmacht fundamentalistischer Ideen, im Gegensatz zu vielen anderen Werken mit Sektenbezug, nicht ins Reißerische abgleiten. Und das Ende ist im besten Sinne irritierend.

Christopher Diekhaus

© W-Film
15+

Deutschland 2024, Regie: Frauke Lodders, Kinostart: 30.01.2025, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 15 Jahren, Laufzeit: 117 Min., Buch: Frauke Lodders, Kamera: Johannes Louis, Musik: André Feldhaus, Schnitt: Elias Ben Engelhardt, Produktion: Matthias Greving, Kirsten Lukaczik, Verleih: W-film Distribution, Besetzung: Flora Li Thiemann (Hannah), Serafin Mishiev (Timotheus), Michelangelo Fortuzzi (Max), Mark Waschke (David), Bettina Zimmermann (Esther), Linja Elise Tauber (Noemi), Karoline Eichhorn (Susanne), Martin Lindow (Dr. Peter Schäfer), Seumas Sargent (Pastor Dave) u. a.

Gotteskinder - Gotteskinder - Gotteskinder - Gotteskinder - Gotteskinder - Gotteskinder - Gotteskinder -