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Wilde

Entdeckt beim „Schlingel“: Der Trickfilm erzählt über ein Mädchen, das zu seinen Wurzeln findet, und klagt die Zerstörung des Regenwalds an.

„Die Welt gehört uns nicht, wir haben sie von unseren Kindern nur geborgt“. Diese häufig zitierte Mahnung von Häuptling Seattle aus dem 19. Jahrhundert ist „Wilde“ vorangestellt, der sich mit der Zerstörung des Regenwalds, dem Kampf um Ressourcen und dem Erhalt des Lebensraums indigener Völker auseinandersetzt und kritisch beleuchtet, was Menschen aus reichen und privilegierten Staaten nachfolgenden Generationen antun. Regisseur Claude Barras setzt seine Themen in einer ästhetisch eindrucksvollen Puppentrickanimation um.

Kéria lebt mit ihrem Vater auf Borneo am Rand einer Palmölplantage, auf der ihr Vater auch arbeitet. Die Beziehungen zu ihren indigenen Wurzeln sind gekappt, bis eines Tages ihr Großvater aus dem Regenwald mit dem Cousin Selaï auftaucht. Weil sein Zuhause von der Palmölindustrie bedroht ist, soll Selaï von nun an bei Kéria und ihrem Vater wohnen und mit Kéria in die Schule gehen. Kéria ist alles andere als begeistert, prallen zwischen Cousine und Cousin doch kulturelle Welten aufeinander. Die einzige Verbindung zwischen den Kindern ist das Orang-Utan-Baby Oshi, das Kéria gerettet hat, nachdem dessen Mutter von Plantagenarbeitern erschossen wurde. Lang hält es Selaï nicht bei Onkel und Cousine aus. Mit Ohsi macht er sich auf den Weg zurück in sein Dorf im Urwald. Doch Kéria folgt ihm, weil sie den Orang-Utan zurückhaben will.

Hatte Kéria zuvor im Verhältnis zu ihrem Cousin die Oberhand, so wechseln jetzt schlagartig die Kräfteverhältnisse. Selaï bewegt sich völlig selbstsicher und autonom im Wald, während Kéria ihm voller Angst und Unwissen folgt. Oshi als dritter im Bunde ist ebenso neugierig und noch unwissend wie Kéria, aber gleichzeitig freiheitsliebend und unabhängig von der Zivilisation wie Selaï. Der Affe nimmt in der Beziehung der drei Figuren eine wichtige Rolle ein. Er zeigt den Kindern, wie man sich mit einem großen Blatt vor Regen schützt und erspürt Kérias Stimmungen ganz intuitiv. Zu den Menschenkindern ist er als eine gleichberechtigte Stimme inszeniert, weil die Tiere hier in der ursprünglichen Natur auf Augenhöhe mit den Menschen akzeptiert werden. Für Kéria ist der Weg in den Urwald aber nicht nur ein Abenteuer, um Oshi zu folgen. Zunehmend führt sie die Reise zurück zu ihren familiären Wurzeln und den Geheimnissen ihrer Ahn*innen.

Regisseur Barras lässt die Ureinwohner*innen in ihrer Sprache sprechen, die von Kéria nicht verstanden wird und die auch für das Publikum nicht untertitelt werden. Gelegentlich übernimmt Kérias Vater die Übersetzung.

Die Puppen mit ihren riesigen Köpfen sind ausdrucksstark und je nach Figur sehr charakteristisch geformt, sie bewegen sich durch einen harmonisch gestalteten Urwald, der mit den Geräuschen aus der Natur vertont wurde. Nur selten setzt eine sphärische Musik ein, meist vertraut Claude Barras auf die klangliche Tonkulisse des Waldes.

Schon in seinem ersten abendfüllenden Puppentrickfilm „Mein Leben als Zucchini“ (2016) ging es Barras um die ausweglose Lage von Kindern, die von Erwachsenen abhängig sind, aber schließlich doch ihre eigenen Strategien finden, sich aus ihrer Ohnmacht zu befreien und unabhängig zu werden. In „Wilde“ ist es Kéria, die eher aus Zufall mit ihrem Handy der drohenden Abholzung etwas entgegensetzt, indem sie die sozialen Medien positiv nutzt. Auch in der Wildnis gibt es aus einem Solarpanel Strom und eine Internetverbindung, durch die die dramatische Geschichte der wenigen verbliebenen indigenen Familien ans Licht der Öffentlichkeit gelangt. Mit seinem Statement gegen die Umweltzerstörung erreicht der Film nicht nur ein junges Publikum. Durch seine ganz eigene ästhetische Form ist der Film auch für Erwachsene sehenswert und ein Plädoyer, sich seiner ökologischen Verantwortung bewusst zu werden.

Katrin Hoffmann

Diese Kritik erschien anlässlich der Aufführung von „Wilde/Sauvages“ beim Filmfestival „Schlingel“ 2024.

 

© Produktion
9+
Animation

Sauvages - Schweiz, Frankreich, Belgien 2024, Regie: Claude Barras, Festivalstart: 25.09.2024, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 9 Jahren, Laufzeit: 87 Min. Buch: Catherine Paillé, Claude Barras. Kamera: Simon Filliot. Musik: Charles de Ville. Schnitt: Anne-Laure Guégan, Claude Barras. Produktion: Nadasdy Film, Panique! Verleih: offen.