Wilder Diamant

Im Kino: Berühmt werden um jeden Preis? Wie besessen kämpft die 19-jährige Liane darum, in einer Reality-TV-Show mitwirken zu können.

Wenn Liane vor dem Spiegel oder der Kamera ihres Smartphones posiert, vergisst sie die Probleme um sich herum: Dass die Mutter seit Monaten keine Miete gezahlt hat, ständig neue Lover in die Wohnung schleppt und ihre Kinder, vor allem die jüngere Schwester Alicia, vernachlässigt. Auch dass sie selbst weder einen Schulabschluss, noch einen Job hat. Dieses Leben will Liane hinter sich lassen, will als Influencerin berühmt werden und viel Geld verdienen. Dafür muss sie toll aussehen und genau das ist ihr momentaner Lebensinhalt. Dickes Make-up, angeklebte Wimpern, blonde Haar-Extensions, extrem lange, aufgeklebte Fingernägel, High Heels mit Glitzersteinen und superkurze Röcke bzw. Jeanshöschen – das gehört zu ihrem perfekten Outfit. Die Brüste hat sie sich letztes Jahr machen lassen, die Lippen hat ihr eine Freundin aufgespritzt und das nächste wird eine Po-OP sein, doch dafür fehlt ihr momentan noch das Geld.

Noch hält sie sich mit Ladendiebstählen über Wasser, aber das wird sich bald ändern. Denn Liane darf an einem Casting für die neue Staffel einer Reality-TV-Show teilnehmen. Schon allein diese Ankündigung auf Instagram hat ihre Follower-Zahl extrem ansteigen lassen. Doch nun hängt sie über Wochen in der Warteschleife, hofft jeden Tag, dass die Managerin Alexandra Ferrer sich meldet.

Regisseurin und Drehbuchautorin Agathe Riedinger begleitet ihre Protagonistin in dieser Zeit der Ungewissheit mit der Kamera. Es ist ihr Spielfilmdebüt, obwohl man auch meinen könnte, es sei ein Dokumentarfilm. Im Mittelpunkt steht einzig und allein die junge Liane, unglaublich authentisch gespielt von der Newcomerin Malou Khebizi. Hauptsächlich in Nahaufnahmen schauen wir ihr zu, wie sie sich schminkt, vor dem Spiegel tanzt, abends ihre von den High Heels geschundenen Füße verarztet, sich mit einer Nadel selbst ein Tattoo sticht. Wir begleiten sie dabei, wie sie sich zärtlich um ihre jüngere Schwester kümmert, wie zerrissen sie sich gegenüber ihrem Freund verhält, der aus ähnlich prekären Verhältnissen stammt wie sie. Wir erleben, wie sie unerschüttert weiterläuft, wenn Männer sie mit Bezug auf ihr Aussehen als „Dreckshure“ beschimpfen oder sie eine gefährliche Situation mit mehreren Männern gut übersteht.

Und in der Tat ist es eine Gratwanderung, auf die sich Liane begibt. Das zeigen auch die Reaktionen ihrer Follower, die von Bewunderung bis hin zu gemeinen sexistischen Beschimpfungen reichen. Doch die junge Frau, so stark und selbstbestimmt sie einerseits auch ist, scheint sich dessen nicht bewusst zu sein. Genau wie ihre Vorstellungen von einem Leben in Reichtum sehr unklar bleiben. Das einzige, was sie genau weiß: Sie will aus ihren prekären Verhältnissen raus. Welche Werte ihr uneingeschränkt wichtig sind, weiß sie noch nicht.

Lianes Widersprüchlichkeit sowie die verschiedenen Facetten der Influencer- und Reality-TV-Welt versucht Agathe Riedinger in ihrer gesamten Komplexität zu zeigen und Hauptdarstellerin Malou Khebizi bedient dies auf eine wunderbar vielschichtige Weise. Kein Wunder also, dass „Wilder Diamant“ den Wettbewerb der 77. Filmfestspiele von Cannes eröffnen durfte.

Barbara Felsmann