Eine Erklärung für Alles
Im Kino: Der 18-jährige Ábel fällt in Budapest durch die Abiprüfung – und löst damit einen landesweiten Skandal aus.
Zwar hat er sich so gut wie möglich auf die Abiturprüfung im Fach Geschichte vorbereitet, doch mit den beiden Prüfungsthemen, die Industriellen Revolution und Julius Cäsar, kann Ábel scheinbar nichts anfangen. Er schweigt beharrlich. Und als der Geschichtslehrer Jakab als Mitglied der Prüfungskommission ihn daraufhin fragt, warum er an seinem Jackett einen Ungarn-Anstecker trägt, verlässt er wortlos den Saal. Eine große Blamage für die Schule! Denn Ábel ist somit durchgefallen, was in den letzten Jahren so gut wie nie vorgekommen ist. Für Ábels Eltern ist es gar eine Katastrophe – und die Presse sorgt dann auch noch dafür, dass der Fall sich zu einem landesweiten Skandal ausweitet. Nur, warum bringt Ábel kein einziges Wort heraus, entschuldigt oder verteidigt sich nicht? Wusste er wirklich nichts? War das ein Ausdruck von Rebellion oder stecken andere Gründe hinter seinem Verhalten? Regisseur Gábor Reisz, der auch am Drehbuch mitgewirkt hat, geht diesen Fragen nach, um auf mehrdeutige Weise eine „Erklärung für alles“ anzubieten.
Ábel ist die einzige Hauptfigur in diesem gut zweistündigen Film, dessen Motivation lange im Unklaren bleibt. Ábel scheint sich von seinem Lehrer schikaniert und degradiert fühlt. Er wirkt eher verschlossen und unnahbar, kann seiner Mitschülerin Janka lange nicht gestehen, dass er in sie verliebt ist. Als Identifikationsfigur ist er nur bedingt geeignet. Seine innere Anspannung vermittelt sich im Film gleichwohl anhand seiner langen Fahrten auf dem Fahrrad, die von der Kamera begleitet werden. Dass seine Liebe zu Janka nicht erwidert wird, könnte auch daran liegen, dass diese seit Jahren in ihren um 20 Jahre älteren Geschichtslehrer Jakab verliebt ist und ihn sogar heiraten möchte. Das ist einer der wenigen Punkte, die im Film etwas unglaubwürdig klingen, die Auseinandersetzungen zwischen den Figuren jedoch dramaturgisch auf die Spitze treiben. Zugleich wird mit dieser Nebenhandlung bereits deutlich, dass die anderen Figuren nicht klischeehaft gezeichnet sind oder gar in eine Schublade gesteckt werden können. Denn Jakak reagiert sehr besonnen auf die Annäherungsversuche seiner Schülerin, während er sich bei einem Interview mit einem älteren Augenzeugen des Ungarn-Aufstands von 1956 eine Blöße gibt, weil er selbst als Geschichtslehrer nicht allzu viel über diese historischen Ereignisse zu wissen scheint. Ábels Vater György ist zwar aufbrausend und bekennender Anhänger der rechtsnationalen Fidesz-Partei von Viktor Orbán, aber kein Tyrann. Er versteht seinen Sohn nicht, möchte ihm jedoch unbedingt helfen. Und die Figur der jungen Journalistin Erika ist dann noch diejenige, die dafür sorgt, dass sich die durchgefallene Prüfung zu einem landesweiten Skandal ausweitet. Sie wittert eine Story für ihre eigene Karriere und stellt den ungeklärten Fall eindeutig als Schuld des nicht dem rechten Lager zuzuordnenden Lehrers dar, der den Schüler absichtlich durchfallen ließ, weil sein Anstecker auf eine rechtsnationale Gesinnung hindeutete. Darüber war der Lehrer nämlich bereits mit Ábels Vater in einen handfesten Streit geraten. So einfach verhält es sich mit dem Anstecker allerdings auch wieder nicht! Er verweist klar auf den 15. März 1848, der jährlich als ungarischer Nationalfeiertag gefeiert wird, auf die ungarische Revolution gegen die Habsburger und die Österreicher. An diesem Feiertag tragen viele ungarische Menschen diesen Anstecker. Aber bei einer Abiturprüfung einige Tage danach?
Zehn Tage lang, mit Handkamera fast dokumentarisch und mit vielen Nahaufnahmen immer dicht den Figuren bleibend, folgt der Film den eskalierenden Ereignissen bis zu einem überraschenden Schluss. Analog dazu, dass die Szenen und Bilder zuerst das klassische Bildformat nicht annähernd füllen und ähnlich einer Aufblende langsam größer werden, reiht sich Mosaikstein an Mosaikstein, um die Konflikte zu erhellen. Die subjektiven Einschätzungen und Verdächtigungen der Hauptfiguren werden somit in größere Zusammenhänge gestellt, bis sich das Bild einer politisch und sozial gespaltenen ungarischen Gesellschaft herauskristallisiert. Ábel als Dreh- und Angelpunkt ist darin wie seine Mitschüler*innen zu einem Spielball der Mächte geworden.
In erster Linie ist Reiszs Film daher ein packendes Zeitdokument zur gesellschaftlichen Situation im heutigen Ungarn, wobei nicht jede Anspielung gleich verstanden werden muss. Denn darüber hinaus verweist das Drama auf einen Populismus, in dem es nicht um offene Diskussion unterschiedlicher Meinungen, sondern nur noch um die „richtige“ Gesinnung und das Nutzen jedweder Ereignisse für die eigenen politischen Zwecke geht. Und diesen Populismus erleben wir aktuell in besonderer Weise in ganz Europa.
Holger Twele
Magyarázat mindenre - Ungarn, Slowakei 2023, Regie: Gábor Reisz, Kinostart: 19.12.2024, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 128 Min., Buch: Gábor Reisz, Éva Schulze, Kamera: Kristóf Becsey, Musik: András Kálmán, Gábor Reisz, Schnitt: Vanda Gorácz, Gábor Balogh, Produktion: Proton Cinema, Mphilms, Verleih: Grandfilm, Besetzung: Gáspár Adonyi Walsh (Ábel), István Znamenák (György), András Rusznák (Jakab), Rebeka Hatházi (Erika), Eliza Sodró (Dorka), Lilla Kizlinger (Janka), Krisztina Urbanovits (Judit) u.a.
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