Kicken wie ein Mädchen
Auf Sooner: Sie lieben Fußball. Die Spielerinnen der Essener U15 zeigen in der Doku-Miniserie, wie hart sie für ihren Profitraum trainieren.
Noch immer gilt in Deutschland Fußball in erster Linie als Männerdomäne. Frauen und Mädchen, die kicken, müssen immer noch gegen Vorurteile ankämpfen. Und das, obwohl die Erfolge der Frauen-Nationalelf oder der Frauen-Bundesligateams für sich sprechen. Fest steht: Dass die Bedingungen im Fußballl für Mädchen und Frauen immer noch stark von denen für Jungs und Männer abweichen, tut der Begeisterung für diese Sportart keinen Abbruch. Viele Mädchen lieben das Fußballspielen. Und viele arbeiten mit großer Beharrlichkeit daran, Profispielerinnen zu werden. Die Filmemacherin Karin de Miguel Wessendorf porträtiert in ihrer dokumentarischen Miniserie vier 13- bis 14-jährige Mädchen, die vor der Kamera von ihren Wünschen, Sehnsüchten, Misserfolgen und Problemen erzählen.
Chayenne aus Gelsenkirchen, Eriona aus Oberhausen, Pauline aus Arnsberg und Liv aus Gelsenkirchen haben eines gemeinsam: Sie spielen im U15-Team des Vereins SGS Essen-Schönebeck, der sich besonders um den Frauenfußball verdient gemacht hat. Als einziges Mädchenteam spielen sie in der Kreisklassen-Liga gegen Jungs. Die vier erzählen vor der Kamera von ihren Interessen, Hoffnungen und Hindernissen. Schon als Vorschulkinder haben sie sich für Fußball begeistert und wurden von kleineren regionalen Vereinen gezielt gefördert, ehe sie den Sprung nach Essen schafften.
Wie wichtig Teamgeist und Harmonie für das SGS-Mädelsteam sind und wie nachdrücklich die Trainer*innen den Kickerinnen auf dem Sportplatz und in der Kabine diese Werte vor Augen führen, zeigt vor allem die zweite Folge. Zugleich wird offenbar, wie oft und weitreichend die Mädchen von der Männerwelt ausgegrenzt und diskriminiert werden.
Was braucht es also, um trotzdem weiterzumachen? Um irgendwann die professionelle Ebene zu erreichen? Eine ganze Menge. In der dritten Folge machen die Trainer*innen ihrer Manschaft deutlich, dass jede Einzelne nicht nur physisch fit werden und bleiben, sondern sich auch Mut zulegen muss, um sich in der harten Konkurrenz behaupten zu können. Es geht darum, sich mentale Stärke und Kreativität anzueignen, schnell entscheiden und effektiv mit Mitspielerinnen kommunizieren zu können.
Ein Jahr lang begleitet die Regisseurin die Mädchen auf ihren Alltagswegen, zu Hause, in der Schule, zum Training oder zu Teambesprechungen. Für die Protagonistinnen wird es ein Entscheidungsjahr, denn für die, die es am Ende der Saison nicht in die nächsthöhere Stufe U16 schaffen, könnte der Traum von der Profikarriere beendet sein. Große Träume hat zum Beispiel die 13-jährige Eriona, deren Eltern aus dem Kosovo stammen und die am liebsten bei Bayern München und der Nationalelf spielen würde. Um ihre Chance zu wahren, ist sie auch bereit viel zu investieren: „Man hat halt nicht so viel Freizeit und muss auf vieles verzichten, etwa Zeit mit Freunden zu verbringen.“
Die Regisseurin hört aufmerksam zu, wenn die jungen Kickerinnen aus dem Ruhrgebiet von ihren Schwierigkeiten erzählen, von gleichaltrigen Jungs als gleichwertig akzeptiert zu werden und sich durchzusetzen. So berichtet Paulines Mutter, dass ihre talentierte Tochter in der Schule gemobbt und außerhalb des Platzes von Jungs geschlagen worden sei, die nicht verkraften konnten, dass Pauline besser spielt als sie. Die Übergriffe hörten erst auf, als die Eltern energisch intervenierten. Pauline selbst sagt im Rückblick: „Ich habe oft nachgedacht, ob ich aufhöre. Ich hatte richtig viel Angst, in die Schule zu gehen. Aber ich haben einfach weitergemacht.“
Man merkt „Kicken wie ein Mädchen“ an, dass die Regisseurin viel Herzblut in das Projekt investiert hat, das sie ohne Fernsehsender und öffentliche Filmförderung realisiert hat. Stattdessen hat sie die Dreharbeiten und Teile der Montage zu den drei ersten Folgen der auf sechs Folgen angelegten Serie mit Corona-Stipendien und Crowd Funding finanziert. Formal kommen die Filme konventionell daher, die Kamera wechselt immer wieder zwischen den vier Protagonistinnen hin und her, wobei die Sequenzen flott montiert sind.
Ausführlich zu Wort kommen auch die Trainer*innen, die Hintergrundinformationen zum Frauenfußball in Deutschland liefern und ihre Einschätzungen zum Entwicklungsstand der Talente abgeben. Von ihnen erfährt man zum Beispiel, wie groß die Einkommenskluft zwischen den Geschlechtern in der deutschen Fußballbranche ist. Nur wenige Spitzenkickerinnen in den Topclubs der Frauen-Bundesliga verdienen so viel, dass sie davon leben können. Von den Luxusgehältern der männlichen Kollegen bei Bayern München & Co. können auch sie nur träumen. Angeschnitten werden zudem eine Reihe weiterer Probleme wie zum Beispiel der harte Konkurrenzkampf um die wenigen Plätze im Profi-Bereich. Auch die Tatsache, dass es im Breitensport in vielen Gegenden keine ebenbürtigen Mädchenteams gibt, obwohl Fußball die drittbeliebteste Sportart bei Mädchen ist. Weil es auch für Trainingsspiele einfach zu wenige Mädelsteams gibt, muss auch die Essener Elf immer wieder gegen Jungsmannschaften antreten, was gelegentlich zu Reibereien führt.
Doch in der vorliegenden Miniserie geht es eben nicht darum, dass die Protagonistinnen an den vorherrschenden Bedingungen verzweifeln. Man spürt, dass die Filmemacherin zur Selbstermächtigung ermuntern will: Sie legt Wert darauf, Chayenne und die anderen als starke Mädchen darzustellen, die einiges einstecken müssen, aber an ihren Zielen festhalten. Diese aktivistische Einstellung hat Karin de Miguel Wessendorf auch schon in Publikationen und Workshops zu Videoaktivismus und Community Media sowie in politisch engagierten Dokumentarfilmen wie „Die rote Linie – Widerstand im Hambacher Forst“ (2019) gezeigt.
Reinhard Kleber
„Kicken wie ein Mädchen“ ist ein Work-in-Progress-Projekt. Für die Fertigstellung und Veröffentlichung der geplanten sechs Folgen werden weiterhin Sponsor*innen und Kooperationspartner*innen gesucht.
Deutschland 2023, Regie: Karin de Miguel Wessendorf, Homevideostart: 01.10.2024, FSK: ab 0, Empfehlung: ab 8 Jahren, Laufzeit: ca. 45 Min. pro Folge, Buch: Karin de Miguel Wessendorf, Kamera: Jennifer Günther, Musik: Fabian Berghofer, Schnitt: Kawe Vakil, Produktion: Karin de Miguel Wessendorf, Verleih: Sooner (Streaming), Mitwirkende: Chayenne, Eriona, Pauline, Liv, Christian van Zwamen, Hardy Corbeck, Vicky Schemme, u. a.
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