Samia
Im Kino: Schon als Kind ist ihr klar, dass sie die schnellste Frau der Welt werden will. Die Geschichte der somalischen Läuferin Samia Yusuf Omar.
„Alles was wir haben, sind Träume“, motiviert der Vater seine 9-jährige Tochter Samia. Dabei hadert er gerade selbst mit seinem Schicksal, nachdem er bei einem Überfall einer paramilitärischen Einheit ein Bein verloren hat. Samia soll trotz der eingeführten gesellschaftlichen Restriktionen, welche insbesondere Mädchen und Frauen treffen, weiter trainieren und als Läuferin am Stadtlauf von Mogadischu, der Hauptstadt Somalias, teilnehmen. Denn ob mit Kopfbedeckung, wie es die Ton angebende radikal-islamistische Gruppierung nun vorgibt, oder ohne: Die selbstbewusste Samia ist ein absolutes Ausnahmetalent. Als einziges teilnehmendes Mädchen läuft sie allen Erwachsenen beim Stadtlauf davon und gewinnt. Die Laufschuhe, die ihr der Vater in diesem Fall versprochen hatte, kann sich die Familie dennoch nicht leisten. Immerhin schenkt er ihr ein Kopfband, das zu ihrem Glücksbringer werden soll.
Schon als Kind hatte Samia den Traum, einmal „die schnellste Frau der Welt“ zu werden“. Dafür trainiert sie, wo und wann immer sich eine Gelegenheit dazu bietet. Ihr bester Freund Ali hilft ihr dabei. Anfangs rennt er mit Samia noch fleißig mit. Schon bald kann er ihr Tempo nicht mehr halten, weshalb er von den anderen Jungen verspottet wird, die ihn für einen Verlierer halten. So beschließt er, Samias Trainer zu werden und sie auf die zukünftigen Wettkämpfe vorzubereiten.
Nach einem Zeitsprung, der mit einem Standbild und der Auflistung bekannter weltpolitischer Ereignisse jener Zeit dargestellt wird, ist Samia 17 Jahre alt. Immer noch trainiert sie, nun mit schwarzem Hijab, mitten in der Nacht und in Sorge, dass sie von den Patrouillen der selbsternannten Sittenwächter gefasst wird. Weiterhin wird sie voll und ganz von ihrem Vater unterstützt, der ihr, kurz bevor ihm das Leben genommen wird, noch folgenden Rat mitgibt: „Niemals darfst du deinem Feind deine Angst zeigen“. Nun liegt es an Samias Mutter, die Tochter zu unterstützen, was ihr gegen vereinzelte Widerstände in der eigenen Familie auch gelingt. Schon bald wird das Olympische Komitee im Norden des Landes auf Samia aufmerksam ...
Wer die somalische Leichtathletin Samia Yusuf Omar, die 1991 in Mogadischu geboren wurde, kennt, weiß, dass sie als einzige Sportlerin ihres Landes bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking angetreten ist. Doch ihre Geschichte dürfte vielen noch unbekannt sein. Dabei stand der Ausnahmeläuferin eine einzigartige Karriere bevor, die ein jähes Ende fand, als die gerade mal 21-Jährige 2012 bei der Flucht über das Mittelmeer ums Leben kam. An ihre Persönlichkeit erinnert der Spielfilm von Regisseurin Yasemin Şamdereli und ihrer Kollegin Deka Mohamed Osman. An ein Leben, das mit frauenfeindlichen gesellschaftlichen Veränderungen, mit Migration, mit Migrationspolitik, mit Chancenungleichheit verknüpft ist. Vor allem aber, und das Rüberzubringen ist inszenatorischer Wille, mit dem Laufen. Samia läuft unter allen Umständen. Und wenn sie läuft, so spürt man es ganz deutlich, ist das ein persönlicher Akt der Befreiung.
Yasemin Şamdereli, die 2011 zusammen mit ihrer Schwester Nesrin und dem geimsamen Debütspielfilm „Almanya – Willkommen in Deutschland“ große Erfolge feiern konnte, macht es uns in „Samia“ allerdings nicht einfach. Die Geschichte des Films, der aufgrund der angespannten Lage nicht in Somalia, sondern in Kenia gedreht wurde, wird in mehreren Rück- und Vorblenden erzählt. Mehrfach wird Samias biografischer Werdegang von den Ereignissen auf ihrer Flucht vom Horn von Afrika durch den Sudan und die Wüste nach Libyen unterbrochen. Dort wird sie mit anderen Geflüchteten in ein Gefängnis gesteckt und ihrer Habseligkeiten beraubt, bis sie nach Zahlung eines Lösegelds ihre Flucht in einem Container und später auf einem schmalen Fischerboot fortsetzen kann. Obwohl Schriftinserts gleich zu Beginn des Films knappe Informationen über Somalia geben, das 1960 unabhängig wurde, eine 20-jährige Diktatur überstand, danach von um die Macht kämpfenden Splittergruppen in einen Bürgerkrieg und ins Chaos gezogen wurde, vermeidet es der Film konsequent, konkrete Hintergrundinformationen zu liefern. Stattdessen konzentriert sich der Film ganz auf die Figur von Samia, auf ihre Familie und ihren Traum, Profiläuferin zu werden. Und somit auf ein Mädchen, eine junge Frau, eine Sportlerin, die hier vor allem für eines steht: für Lebens- und Bewegungsfreude, für einen starken Willen, für einen ansteckenden Optimismus. Das berührt emotional nicht nur auf Grund des tragischen Endes, das hebt den Film von vielen anderen Biopics und Migrationsgeschichten ab.
Holger Twele
Belgien, Deutschland, Italien, Schweden 2024, Regie: Yasemin Şamdereli, Kinostart: 19.09.2024, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 102 Min., Deutsche Fassung und OmU, Buch: Nesrin Şamdereli, Yasemin Şamdereli, Giuseppe Catozzella, nach dem Roman von Giuseppe Catozzella, Kamera: Florian Berutti, Musik: Radrigo D‘Erasmo, Schnitt: Mechthild Barth, Produktion: Indyca, in Koproduktion mit Rai Cinema, Neue Bioskop Film, Tarantula und Bim Produzione, Verleih: Weltkino, Besetzung: Ilham Mohamed Osman (Samia), Elmi Rashid Elmi (Ali), Riyan Roble (Samia als Kind), Zakaria Mohammed (Ali als Kind), Fatah Ghedi (Yusuf), Fathia Mohamed Absie (Aayan), Kaltuma Mohamed Abdi (Miriam), Mohamed Abdullahi Omar (Said) u.a.