Samuel
In der ARTE-Mediathek: Wenn sich hinter dem vermeintlich Einfachen ein unterhaltsames und emotional aufwühlendes Psychogramm versteckt.
Ein kurzer Blick könnte manchen genügen, um die Zeichentrickserie „Samuel“ als ein belangloses Kuriosum abzutun. Wabernde Linien, sehr reduzierter Stil, Figuren, die kaum ausgearbeitet zu sein scheinen. Doch gerade darin liegt eine ungemeine Kraft. Und dass sich diese vielleicht sogar erst in der Rückschau voll entfaltet, passt perfekt zu der Zeit, um die es hier geht: die Pubertät beziehungsweise die verwirrenden Anfänge eben jener.
Anfang der 2000er ist Samuel 10 Jahre alt, lebt irgendwo in einem Pariser Vorort und steht kurz vor dem Wechsel auf die weiterführende Schule. Eine Zeit des Umbruchs also, in der sich die Kindheit langsam, aber sicher verabschiedet und neue Interessen sich ihren Weg bahnen – im Falle von Samuel zum Beispiel Julie, die sich eines Tages im Bus neben ihn setzt. Dies ist der Auftakt zu einer emotionalen Achterbahnfahrt, die Samuel (und mit ihm das Publikum) bis zum Ende des ersten Jahres auf der neuen Schule führen wird.
Aber wie viel Erkenntnis, wie viel Weisheit können schon 2 bis 3 Minuten langen Folgen stecken? „Samuel“ beweist: eine ganze Menge. Denn in vielen Kleinigkeiten zeigt sich ein pointiertes Verständnis für eine Lebensphase, die ebenso aufregend wie verwirrend daherkommt und die doch kein Mensch der Bequemlichkeit halber auslassen könnte. So findet die Serie mitunter auch Worte für alltägliche Dinge, die schwer zu fassen sind. Wenn Samuel einen Nachmittag mit Freunden mit „Es fühlte sich an wie Sommerferien, obwohl es erst Januar war“ beschreibt, gelingt es, auf scheinbar unkompliziertem Wege, generationsübergreifende Erfahrungen greifbar zu machen.
Eine gewisse nostalgische Note ist natürlich mit von der Partie! Wenn unser Protagonist die Arme in die Höhe reißt, weil Julie endlich im AOL-Chat online gekommen ist, dann ist dies durch das Setting bedingt natürlich datierbar – und für Menschen, die „dabei waren“ besonders nachvollziehbar. „Samuel“ schafft es aber, der Nostalgie nicht übermäßig viel Raum zuzugestehen. Sie bildet lediglich einen Rahmen, in dem auch junge Zuschauer*innen Anknüpfungspunkte finden (Ersetze AOL-Chat mit WhatsApp).
Besonders beeindruckend ist in dieser Serie allerdings, wie sehr der Animationsstil die Erzählung unterstützt. Die Striche, die stets in Bewegung sind, unterstreichen das rastlose, das auf der Suche sein – nach was auch immer. Gleichzeitig erlaubt gerade die Reduktion eine besondere Klarheit über die Gefühle der Figuren. Das, was ohnehin eine besondere Stärke insbesondere des klassischen Zeichentrickfilms ist – menschliche Emotionen in einer unmittelbaren Direktheit auf Figuren zu übertragen, ohne sich dabei einer Theatralik besonderen Ausmaßes verdächtig zu machen – wird hier auf die Spitze getrieben und erlaubt den Charakteren, im Laufe der 21 Folgen, über ihr schlichtes Design hinauszuwachsen. Samuel und seine Freunde sind schon nach Episode 1 mehr als die Summe ihrer Striche.
Müsste man etwas kritisieren, dann vielleicht, dass Samuel für das Ringen um Beziehungen, Zugehörigkeiten und die allgemeine Seltsamkeit der Pubertät auch hätte 2 bis 3 Jahre älter sein können. Vielleicht spricht hier aber auch nur die Erfahrung des Rezensenten, der mit 10 Jahren noch nicht so weit war wie Samuel und für den viele der Gedanken, die sich unser Protagonist macht, erst später ein „hot topic“ wurden. Abgesehen davon lässt sich eigentlich nur beanstanden, dass die Serie irgendwann einfach zu Ende ist. Denn wenn Samuel sein Tagebuch abschließt, hat das etwas geradezu Grausam-Endgültiges, obwohl ein neuer Lebensabschnitt gerade erst begonnen hat. Für ihn ist die Phase des Schreibens vorbei, ein klarer Schnitt, wie er so nur in der Jugend möglich zu sein scheint. Wir aber sitzen hier und wünschen uns mehr. Mehr darüber zu erfahren, wie es mit dem schüchternen Jungen und seinem Umfeld weitergeht.
Jan Noyer
Frankreich 2021, Regie: Émilie Tronche, Homevideostart: 01.07.2024, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: ca. 3 Min. pro Folge, Buch: Émilie Tronche, Schnitt: Jérôme Bréau, Musik: David Imbault, Ivan Cester, Produktion: CNC, Les Valseurs , Verleih: Arte France Cinéma