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Dìdi

Im Kino: Dìdi wird als Kameramann von Skateboardern engagiert. Ist das sein Einstieg in die Welt der Coolen?

Kalifornien im Sommer 2008: Social Media ist schwer im Kommen, und jeder, der eine Digitalkamera hat, fühlt sich als geborener Filmemacher. Diese Ära markiert – wie wir heute wissen - den Beginn einer ganzen Generation von Youtubern. Auch den 13-jährigen Chris Wang hat das Kamera-Fieber gepackt. Chris lebt mit bei seiner Mutter Chungsing. Unter demselben Dach wohnen auch seine vier Jahre ältere Schwester Vivian und die dauer-nörgelige Großmutter Nai Nai. Chris macht gerade eine komplizierte Zeit des Umbruchs durch. Zwar hat er mit Soup und Fahad zwei Freunde zum Chatten und Chillen, aber ganz verlassen kann er sich nicht auf sie.

Es ist Chris‘ letzter Sommer vor dem Wechsel in die High School und natürlich möchte er spätestens dort zu den „coolen“ Kids gehören. Doch Anerkennung zu finden, ist nicht so einfach für ihn. Es verlangt einen ziemlichen Spagat. Da sind einerseits die traditionellen Einstellungen seiner Großmutter und die Sorgen seiner Mutter, die sich in die Kunstmalerei flüchtet, während sie von Nai Nai ständig Kritik einstecken muss. Drei Generationen unter einem Dach – schwierig! Andererseits möchte Chris einfach nur dem Bild eines typischen kalifornischen Jugendlichen entsprechen. Aber seine taiwanesische Herkunft fordert von ihm Balanceakte zwischen seinem Familienleben und dem Leben, das die anderen führen, zu denen er auch gerne gehören möchte. Viel zu oft schämt sich Chris allein schon wegen seines deutlich erkennbaren asiatischen Aussehens. Sich bei einer Party als „halb weiß“ zu präsentieren, könnte zwar die halbe Strecke zu einer gefühlten Normalität bedeuten. Doch Chris kann sich selbst nur schwer in die Tasche lügen: Es müsste schon mehr passieren, damit er sich wirklich gut fühlen kann.

Wie wäre es also mit Skaten, denn wer skatet, der ist garantiert „cool“ und „in“. Da kommt es wie gerufen, dass Chris auf eine Gruppe erfahrener Skateboarder trifft, die gerade händeringend nach einem Kameramann suchen. Es macht „klick“ bei Chris. Die waghalsigen Einlagen der großen Jungs werbewirksam ins Bild zu setzen, das ist seine Chance als Kamera-Nerd. Chris gibt alles. Aber die Ergebnisse – sie sind einfach nur grottenschlecht. Da er es als Filmer so gründlich vermasselt hat, hilft nur noch die Flucht nach vorne. Richtig turbulent wird es spätestens, als Chris obendrein die Liebe entdeckt. In einer verwegenen Mischung aus Dreistigkeit und Unbeholfenheit versucht er, seine ältere Mitschülerin Madi auf sich aufmerksam zu machen.

In „Dìdi“ ist alles drin, was einen Coming-of-Age-Film ausmacht. Es geht um die Ablösung vom Elternhaus, um komplizierte Freundschaften, die Suche nach der eigenen Identität und um erste Liebe. Und doch hebt sich dieser von Sean Wang erfrischend unkonventionell gedrehte Film mindestens in zweifacher Hinsicht deutlich vom Schema der US-Jugendfilme ab.
Zum einen ist es der stets humorvolle und liebevolle Blick auf die Familie, in der öfters die Fetzen fliegen und man kein Blatt vor den Mund nimmt. Chris torpediert das Bemühen seiner Mutter um Verständnis und Verständigung. Er missachtet ihre künstlerischen Ambitionen. Dabei sind sie sich darin eigentlich sogar recht ähnlich. Beide suchen sie nach Anerkennung in einer fremden, tendenziell feindlich erlebten Umwelt, in der aber kleine Wunder möglich sind, wenn etwa einer der Skater-Kumpels seine Bewunderung für Chungsings Malerei ausdrückt.
Zum anderen ist es der Fokus auf den Migrationshintergrund mit seinen Implikationen von Diskriminierung, Rassismus und dem Bruch von Traditionen. Werte und Haltungen müssen ständig austariert werden. Daraus resultieren Unsicherheiten und echte Herausforderungen. Denn selbst in einem klassischen Einwanderungsland wie den USA sind die Hürden für eine taiwanesischstämmige Familie recht hoch.
Die anfangs recht lockere Inszenierung mit eingeblendeten Chatverläufen und schnellen Schnitten täuscht nicht darüber hinweg, dass der Film auch in die Tiefe geht, speziell bei der Persönlichkeitsentwicklung von Chris, der einen starken Reifungsprozess durchläuft, hin zu einem nachdenklichen und empfindsamen Jungen. In seiner Familie wird Chris übrigens Dìdi genannt, analog zum Filmtitel, was so viel wie „kleiner Bruder“ bedeutet und ein Kosename für den jüngsten Sohn ist.

Das Langfilmdebüt von Sean Wang, der bereits mit seinem dokumentarischen Kurzfilm „Nai Nai & Wái Pó“ (2023) eine Oscar-Nominierung erhielt, gewann beim Sundance Filmfestival 2024 den Publikumspreis in der Sektion US Dramatic sowie den Spezialpreis der Jury. Der Film enthält zahlreiche biografische Bezüge zum Leben des Regisseurs. Seine eigene Großmutter Nai Nai verkörpert im Film im Grunde sich selbst; die Bilder der Filmfigur Chungsing stammen alle von Cynthia Lee, der Mutter des Regisseurs. Ihr hat der Regisseur auch seinen Film gewidmet, was umso mehr überrascht, als Chris im Film mit seiner Mutter alles andere als pfleglich umgeht. Die Analogien in der filmischen Erzählung und den eigenen Erlebnissen aus der Jugend Sean Wangs liegen also auf der Hand. Gleichwohl betont der Regisseur in einem Filmgespräch beim Cinekindl-Festival in München, dass nicht alles autobiografisch sei. In mindestens einem Punkt erscheint das mehr als plausibel, denn zwischen den dilettantischen Aufnahmen des Film-Chris und der reifen Inszenierung Wangs, die ihm als Regisseur gleich zwei Preise beim Sundance-Filmfestival eingebracht hat, liegt doch ein erheblicher Qualitätsunterschied.

Holger Twele

© Filmfest München / Universal Pictures Germany
12+
Spielfilm

Dìdi - USA 2024, Regie: Sean Wang, Festivalstart: 30.06.2024, Kinostart: 15.08.2024, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 94 Min., Buch: Sean Wang, Kamera: Sam A. Davis, Schnitt: Arielle Zakowski, Musik: Giosuè Greco, Produktion: Maiden Voyage, Verleih: Universal Pictures Germany, Besetzung: Izaak Wang (Chris Wang), Joan Chen (Chungsing Wang), Chang Li Hua (Nai Nai), Shirley Chen (Vivian Wang), Raul Dial (Fahad) u. a.

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