Nicht eine mehr
Auf Netflix: Wo ist eine Grenze erreicht? Wo fängt Gewalt gegen Frauen an? Diese spanische Jugendserie ist nah an den Themen unserer Zeit – #MeToo.
Die Geschichte beginnt mit einem Paukenschlag. Kurz vor ihrem Schulabschluss hängt die 17-Jährige Alma ein Transparent vor dem Schulgebäude auf: „Achtung, hier drinnen versteckt sich ein Vergewaltiger“. Die Schüler*innen reagieren unterschiedlich, von Schock über „Wichtigtuerin“ bis hin zu „Die ist doch verrückt“ ist alles dabei. Der Rektor will sogar die Polizei verständigen. Alma ist wütend, das ist ihr deutlich anzusehen, aber sie ist auch tief verletzt. Was ist passiert? Dieser Frage geht die spanische Coming-of-Age Serie nach.
Alma führt ein normales Teenagerleben in einem Vorort, am liebsten ist sie mit ihren Freundinnen aus Kindheitstagen Greta und Nata zusammen. Sie reden über alles, sehr offen auch über ihr sexuelles Verlangen, mit dem sie offensiv und selbstbewusst umgehen. Vor allem mit der einfühlsamen Greta, die auf Frauen steht, verbindet Alma eine tiefe Freundschaft voller Liebe und Nähe. Greta ist es dann auch, die Almas Geheimnis irgendwann auf die Spur kommt. Vorher lernen wir die Welt der Protagonistin aber erst einmal genauer kennen!
Zu Hause gibt es oft Streit, besonders mit dem Vater hat Alma viel Stress, einmal schlägt er sie sogar. Die in der Frauenbewegung aktive Mutter hingegen ist voller Sorge, findet aber keinen Zugang zur Tochter. Und auch außerhalb des Elternhauses ist einiges los! In letzter Zeit interessiert sich Freundin Nata nämlich nur noch für Alberto, obwohl sich alle einig sind, dass der Frauen schlecht behandelt. Aber Nata verfolgt kühn ihren Plan möglichst guten Sex zu haben. Und dann ist da noch Mitschülerin Berta, der Alma lieber aus dem Weg geht. Ganz nebenbei erzählt die Serie, dass für die jungen Frauen schlechte Erfahrungen mit Jungen und Männern zur Tagesordnung gehören, alltägliche Grenzüberschreitungen, von dummen Sprüchen über Bedrohung bis hin zu Missbrauch. Deutlich wird: Egal wie selbstbestimmt die jungen Frauen mit ihrer Sexualität umgehen, die Gesellschaft reagiert bei ihnen anders als bei sich gleich verhaltenden männlichen Figuren, sie wertet sie ab. Gleichberechtigung? Fehlanzeige. Alma bringt es in einem Streit mit dem Klassenkameraden auf den Punkt: Heteropatriarchat bedeutet zum Beispiel, dass du ungestraft so einen Mist reden kannst.
Obwohl Alma und ihre Freundinnen viele Konflikte im Alltag auskämpfen müssen, handelt es sich hier keinesfalls um eine Problemserie. Es geht auch um die emotionale Wucht der Jugendzeit, um Ausgelassenheit, die unbedingte Sehnsucht nach großen Gefühlen, Ausbruch und Abenteuer. Es wird viel geraucht, gekifft, gefeiert – und definitiv kein Blatt vor den Mund genommen. Die Geschichte basiert auf dem gleichnamigen spanischen Jugendroman. Während der Originaltitel „Ni una más“ bei uns eher keine Assoziationen weckt, ist er im spanischsprachigen Raum das Motto einer millionenstarken Bewegung, die in Lateinamerika entstand. Sie benennt Gewalt gegen Frauen klar als strukturelle Gewalt. „Ni una más“ steht also immer auch dafür, frauenfeindliche Übergriffe nicht als Einzelfall abzutun, nicht von Morden, sondern von Femiziden zu sprechen. Der Übergriff gegen eine Einzelne betrifft alle Frauen. Und genau dieses Solidaritätsbekenntnis schildert die Jugendserie eindrücklich.
Je lauter Alma ihre Stimme gegen Ungerechtigkeiten erhebt, desto mehr nimmt der Druck auf sie zu. Sie erhält anonyme Dick-Picks, die Clique um Alberto bedroht sie massiv. Es geht aber auch um das Schweigen der Frauen, die tiefe Scham nach Missbrauchserlebnissen, die Unmöglichkeit der Verarbeitung, um Selbstmord. Und wenngleich die männlichen Figuren in dieser Serie deutlich schlechter wegkommen, so gibt es auch Lichtblicke: David, der große Bruder von Greta, in den Alma sich verliebt und der im Keller Weed anbaut. Ein guter Freund aus der Kindheit, ein bemühter Geschichtslehrer – aber nicht alles ist so, wie es zunächst scheint.
Die berührende, spannende und unterhaltsame Dramaserie wirft viele Fragen auf und nimmt dabei auch Alma in die Verantwortung, berichtet von der Mittäterschaft von Mädchen, toxische Beziehungen aufrecht zu halten, ebenso vom Versagen der Eltern und Autoritätspersonen, der Gesellschaft letztlich. Bei aller Schwere kann sie trotzdem auch als lockere Coming-of-Age Geschichte rezipiert werden, voller Musik, Lebensfreude und mit einem positiven Ausblick.
Christiane Radeke
Ni una más - Spanien 2024, Regie: Miguel Sáez Carral, Homevideostart: 31.05.2024, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 8 Episoden à 45 Min., Buch: Miguel Sáez Carral, Isa Sánchez, nach dem Roman von Miguel Sáez-Carral, Kamera: David Tudela, Ismael Issa, Musik: Lucas Vidal, Verleih: Netflix, Besetzung: Nicole Wallace (Alma), Clara Galle (Greta), Aicha Villaverde (Nata), Gabriel Guevara (Alberto), José Pastor (David) u. a.
Altersempfehlung 14-18 Jahre
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