Mustang
Fünf Schwestern lehnen sich gegen patriarchalische Familienstrukturen auf.
In einem kleinen Dorf in der Türkei sind Lale und ihre Schwestern Gefangene in ihrem eigenen Haus. Zunächst sind nur die Türen abgeschlossen, doch als sich diese Barriere als zu niedrig erweist, sorgen Mauern und vergitterte Fenster für die notwendige „Sicherheit“ der jungen Frauen. Um die Heranwachsenden endgültig unter Kontrolle zu bringen, soll eine nach der anderen verheiratet werden, womit die Institution der Ehe nebenbei und doch völlig unverblümt als Fortführung desselben Gefängnisses erscheint. Während die älteren Schwestern sich demütig ihrem Schicksal ergeben oder daran zerbrechen, will die kleine Lale dieses Los nicht akzeptieren und plant eine Flucht nach Istanbul.
Regisseurin Deniz Gamze Ergüven zeigt in „Mustang“ den Fremdbesitz des weiblichen Körpers auf verschiedenen Ebenen, während sie Akte der Gewalt mit zärtlichen Momenten der physischen Nähe unter den Schwestern kontrastiert. In ihrem kleinen weiblichen Mikrokosmos des Kinderzimmers sind die Mädchen vorübergehend Herrinnen ihrer Körper. Ineinander verschlungen tauschen sie Nähe und Zärtlichkeiten aus oder tollen ausgelassen herum. Dass sie dabei stets leicht bekleidet sind, ist Ausdruck ihrer Privatheit und Selbstbestimmung. In diesen Momenten besitzen sie die Macht über ihr Leben, ihren Körper, ihre Beziehungen.
Die sommerliche Kleidung ist ein Akt der Freiheit, einer Freiheit, die den Schwestern der erziehungsberechtigte Onkel sukzessive nimmt. Lale und die anderen verlieren die Macht über ihr Leben, aber auch über den eigenen Körper. Weder über ihre Kleidung noch über ihre Sexualität dürfen sie fortan bestimmen. Jungfräulichkeitstests als Ermittlung ihres vermeintlichen Werts degradieren sie zur sexuellen Ware, die mit der Heirat lediglich den Besitzer wechselt. In diesem Kontext ist auch der Inzest durch den Onkel als fester Bestandteil der patriarchalen Ordnung zu sehen, sind die zu Objekten degradierten Mädchen doch zunächst noch Teil seines Besitzes, über den er frei verfügen darf.
Deniz Gamze Ergüven stellt hier einen direkten Zusammenhang zwischen der Objektifizierung des weiblichen Körpers und sexualisierter Gewalt her, der sich ohne Weiteres auch auf unsere Gesellschaft übertragen lässt: Eine Gesellschaft, die Frauen nicht als voll- und den Männern gleichwertige Personen begreift, kann sexualisierte Gewalt bagatellisieren und legitimieren.
Großer interpretatorischer Fähigkeiten bedarf es zum Verständnis dieser Botschaft nicht. Die Freiheitsberaubung der Mädchen und das hierin wurzelnde Leid ist deutlich sichtbar und muss nicht zwischen den Zeilen erahnt werden. Dank eines immens natürlichen Stils in Bildgestaltung, Kamera und Schauspiel wirkt Mustang dabei jedoch niemals belehrend oder moralisierend. Vielmehr scheint uns Deniz Gamze Ergüven einen authentischen Einblick in einen Teil der türkischen Gesellschaft zu geben, wobei die Kontrastierung mit dem Sehnsuchtsort Istanbul zu jeder Zeit ein differenziertes Bild der türkischen Kultur ermöglicht.
Auch belässt sie „Mustang“ Lela, die hier als Erzählerin die Hauptfigur der Geschichte darstellt, nicht in der Opferrolle. Dass sich ausgerechnet die Jüngste anhaltend gegen das Patriarchat auflehnt, erzählt von der Macht der Sozialisierung. Wer nicht das Glück hat, wie die älteste Schwester Sonay eine Liebesheirat zu erwirken, die ergibt sich stumm in ihr Schicksal. Doch Lela hat in ihrer kürzeren Lebensspanne noch nicht dasselbe Maß an Kränkung und Entrechtung erlebt. In ihr flammt noch ein kleines Feuer der Selbstbestimmung. Und zugleich ist sie sich bewusst, dass ihr Fluchtplan nur mit Unterstützung des Supermarktlieferanten Yasin funktionieren kann. Mit dieser Figur thematisiert Deniz Gamze Ergüven „Allyship“ und nimmt Männer, als die im Patriarchat Privilegierten, mit in die Verantwortung.
Während „Mustang“ uns zeigt, wie Frauen an einem anderen Ort der Welt unterdrückt und körperlich enteignet werden, erzählt uns der Film also auch etwas über uns selbst, das Patriarchat in dem wir leben und unsere Möglichkeiten des Widerstands. Der Ausbruch ist möglich. Er erfordert Mut und ist manchmal gefährlich, aber es lohnt sich immer dafür zu kämpfen!
Sophie Charlotte Rieger
Übrigens: „Mustang“ und andere tolle Filme sind Teil des Themendossiers „Gender & Lieben“. Werfen Sie doch mal einen Blick rein.
Türkei, Frankreich, Katar, Deutschland 2015, Regie: Deniz Gamze Ergüven, Kinostart: 25.02.2016, Homevideostart: 12.09.2016, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 94 Min., Buch: Deniz Gamze Ergüven, Alice Winocour, Kamera: David Chizallet, Ersin Gok, Schnitt: Mathilde van de Moortel, Musik: Warren Ellis, Produktion: CG Cinéma, Vistamar Filmprod., Uhlandfilm, Bam Film, Canal+, Ciné+, ZDF, Arte, Verleih: Weltkino, Besetzung: Günes Sensoy (Lale), Doga Zeynep Doguslu (Nur), Elit Iscan (Ece), Tugba Sunguroglu (Selma), Ilayda Akdogan (Sonay)
Altersempfehlung 14-18 Jahre
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