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Der Junge muss an die frische Luft

Die prägenden Kindheitsjahre des Entertainers Hape Kerkeling, einfühlsam und humorvoll verfilmt von Caroline Link.

„Vielleicht hätte ich mich mehr anstrengen müssen“, das ist das traurige Fazit des neunjährigen Hans-Peter, nachdem er seine Mutter nicht davor bewahren konnte, sich das Leben zu nehmen. „Nein“ wollen wir ihm zurufen, „es hätte nichts genützt“. Aber das weiß der pummelige Kleine damals noch nicht. Er trägt schwer am Tod der Mutter, nicht nur, weil er noch sehr jung ist, sondern vor allem weil er der Einzige war, der sie mit seinen Scherzen und den Parodien bekannter Persönlichkeiten immer wieder für kurze Zeit aus ihrer tiefen Depression herausholen konnte. Für einen wehmütigen kleinen Moment huschte dann ein Lächeln über ihr Gesicht, bevor sie wieder in Lethargie versank.

Mit dieser eingebildeten Schuld aufzuwachsen, ist ein Trauma für ein Kind. Aber Hans-Peter entdeckt darüber sein Talent. Er ist damals schon der begnadete Entertainer, der uns später als Hape Kerkeling die Fernsehabende versüßen wird. Mit seiner Autobiografie „Der Junge muss an die frische Luft“ hat er seine Kindheitsgeschichte vorgelegt, die nun von Caroline Link genial verfilmt wurde. Der titelgebende Satz stammt von Opa Willi, der den Jungen in den Sommerferien aus der Küche seiner Mutter herausholt, in der sie immer nur stumm auf dem Stuhl sitzt, und zwei Wochen lang mit ihm in die Berge fährt. Kerkeling wächst im Ruhrgebiet auf, die Geschichte spielt Anfang der 1970er-Jahre in Recklinghausen. Nicht im klassischen Bergmann-Milieu, aber im typischen Arbeiterviertel, in dem Oma Änne einen Lebensmittelladen führt. Die Beziehungen der Kinder in der Straße untereinander sind rau, aber herzlich. Im Film geht es jedoch weniger um die Kinderclique, in der Hans-Peter den Hoss spielt, wenn Bonanza das Thema der Bande ist, sondern wir erleben den Jungen vor allem inmitten einer riesigen Familiensippe, wie wir sie heute kaum noch kennen und die im Pott ganz besonders eng und gemeinschaftlich zu sein pflegte. Dieses Klischee sei hier übrigens ganz nebenbei aus Sicht der Rezensentin mit ihrer eigenen Kindheitserfahrung im Kohlenpott bestätigt.

Caroline Link inszeniert Hans-Peters Geschichte sozusagen im Davor und Danach des Suizids der Mutter und versinkt dabei nicht in dramatischer Rührseligkeit, sondern zeigt, wie sehr die Familie den Jungen auffängt und stützt. Daran sind vor allem die beiden Großmütter maßgeblich beteiligt. Oma Bertha wird mit Opa Hermann schließlich zu Vater, Bruder und Hans-Peter ziehen und sich um die Familie zu kümmern. Auch bei ihr kann er so sein, wie er ist. Schon sehr früh verkündet Bertha, dass der Junge Junggeselle bleiben wird und lässt schon zu dieser Zeit durchblicken, dass sie weiß, dass Hans-Peter nicht auf Mädchen und später eben nicht auf Frauen fliegt. Er darf als Prinzessin im Tütü und mit schwarzen Locken zum Karneval gehen, anstatt wie alle „richtigen“ Jungs als Cowboy oder Indianer. Unterstützung und Zuspruch von der gesamten Verwandtschaft zu erhalten, ist für den Jungen überlebenswichtig. Schon vor dem großen Unglück fühlt er sich geborgen und anerkannt, das hilft ihm, nach dem Tod der Mutter seinen Optimismus nicht zu verlieren, tapfer stellt er sich den Herausforderungen des Alltags.

Links Film macht Mut, weil es Hans-Peter gelingt, sich auch in der größten Katastrophe auf seine Stärken zu besinnen. Er professionalisiert seine Begabung, die ihn schon früh in den Mittelpunkt der Familienfeste stellt, denn er gibt stets humoristische Einlagen zum Besten und spürt ganz intuitiv, dass er Menschen damit begeistern kann. Hans-Peters erster Ausritt auf seinem Pferd wird zur großen Show, in der die Verwandten applaudierend und lachend an der Koppel stehen, während Hans-Peter verkehrt herum auf dem Pferd sitzend den Spaßmacher gibt.

Wie die meisten Filme der Regisseurin handelt auch Kerkelings Autobiografie von zwischenmenschlichen Bindungen und tragischen Verlusten, die innerhalb der Familie bewältigt werden müssen. Der Verlust der Heimat war das Thema ihres oscarprämierenden Films „Nirgendwo in Afrika“ (2001). Immer stehen Kinder und deren Verhältnis zu ihren Eltern im Zentrum und kaum jemand kann die Nuancen emotionaler Darstellungen so gut bei den Schauspieler*innen abrufen wie sie. Julius Weckauf als Hans-Peter ist die ideale Besetzung, ganz so, wie man sich den kleinen Hape Kerkeling vorstellt. Er ist schlagfertig, komisch, dabei aber sehr sensibel – und Link hält dies in humorvollen und zugleich anrührenden Bildern fest, wie sie auch den unverwechselbaren Charakter des Kohlereviers in authentische Bilder fasst. In Kerkelings Sippschaft haben vor allem die Frauen das Sagen, allen voran Oma Änne, die sehr herrschaftlich auftreten kann und beispielsweise winkend mit der Familie in ihrer offenen Kutsche durchs Stadtviertel fährt. Von Hape Kerkeling wird es später eine Parodie auf die winkende Königin Beatrix der Niederlande geben, ein Schelm, wer da an eine Koinzidenz denkt. „Das Leben muss ja irgendwie weitergehen.“ Ja, das stimmt, Hans-Peter. Aus dir ist etwas Besonderes geworden, wie Oma Änne schon vorausgesehen hat. Und wir dürfen Dank eines großartigen Films ein kleines Stück deines Weges miterleben.

Katrin Hoffmann

© Warner
12+
Spielfilm

Der Junge muss an die frische Luft - Deutschland 2018, Regie: Caroline Link, Kinostart: 25.12.2018, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 100 Min., Buch: Ruth Toma, nach dem gleichnamigen Roman von Hape Kerkeling, Kamera: Judith Kaufmann, Schnitt: Simon Gstöttmayr, Musik: Niki Reiser, Produktion: Sebastian Werninger, Nico Hofmann, Hermann Florin, Verleih: Warner, Besetzung: Luise Heyer (Mutter Margret), Hedi Kriegeskotte (Oma Änne), Joachim Król (Opa Willi), Julius Weckauf (Hans-Peter), Ursula Werner (Oma Bertha) u. a.

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